Zuerst schwatzte Marie nur belangloses Zeug, doch ihre Mutter ließ sie geduldig gewähren. Die junge Frau war erst am Vorabend aus Loques in Angers eingetroffen und schien ein Verlangen zu haben, die neuen Kleider zu beschreiben, die sie zu ein paar Festen getragen hatte, die während des Herbstes zu Ehren der Helden von Baugé gefeiert worden waren. Danach kamen Tratsch und Klatsch über Menschen, von denen Yolande noch niemals zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Sie nickte freundlich und ermunterte Marie trotzdem weiterzusprechen.
Endlich wandte ihre Tochter sich interessanteren Themen zu. Der überraschende Tod von Tanguy de Châtel, dem ehemaligen Provos von Paris und engstem Vertrauten ihres zukünftigen Schwiegersohnes war ein Rätsel, das sie alleine nicht zu lösen vermochte. Sie hoffte irgendwelche Schlüssel zu diesem Geheimnis in Maries Geplapper zu finden, denn offensichtlich hatte Charles bis jetzt noch keinen Grund gesehen, Tanguy als seinen militärischen Berater zu ersetzen. Aber er hatte sich trotzdem dazu durchgerungen, bei Baugé mit den Engländern zu kämpfen.
Yolande konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der wankelmütige, blasse, mutlose und entscheidungsfaule Ponthieu alleine beschlossen haben konnte, alle seine Truppen einschließlich der Schotten gegen den Herzog von Clarence ins Feld zu schicken. Irgendjemand musste ihm ins Ohr geflüstert haben... Irgendjemand, der über ähnliche militärische Kompetenzen verfügte, wie der verstorbene de Châtel.
Marie-Souris versuchte gerade, ihr glaubhaft zu machen, dass der Teufel höchstpersönlich Tanguy abgeholt und in die Hölle eingeladen hätte. Eine alte Vettel, die die Kerzen in Loques anzündete, hatte es ihr erzählt. Yolande hätte ihre Tochter am liebsten kräftig durchgeschüttelt. Wie konnte eine erwachsene Frau nur solchem Unfug Glauben schenken?
Marie schien ihn nicht besonders gemocht zu haben, den Tanguy. Er war ein harter Kriegsmann gewesen, rau und ungeschliffen, dem die Feste und spielerischen Vergnüglichkeiten, mit denen Charles und sein Hofstaat sich die Zeit zu vertreiben pflegten, missfielen. Außerdem war er ungesellig und eigenbrötlerisch gewesen, hatte sich oft in seinen Gemächern eingeschlossen und dort gerumpelt und rumort. Die gleiche alte Vettel, die ihr von dem unheimlichen Treiben erzählt hatte, hatte ihr auch berichtet, dass sie einmal einen feuerroten Dämon durch Tanguys Kamin in den Nachthimmel habe fliegen sehen.
Yolande schüttelte wieder den Kopf über die Leichtgläubigkeit und Dummheit von Marie. Doch sie wagte es nicht, den Redefluss ihrer Tochter zu unterbrechen. Die Herzogin wusste, dass de Châtels größte Sorge seit dem Tag seiner Ankunft aus Paris in Loques immer nur der Bedrohung des Landes jenseits der Loire durch die Engländer und die Burgunder gewesen war.
Er hatte mehrfach versuchte, den Dauphin zu überreden eine Annäherung mit Montforzh und Ambrosius de Cornouailles zu versuchen, denn beide Fürsten hatten seit Azincourt ihr Spiel bedeckt gehalten und galten als neutral. Er war es auch gewesen, der Charles‘ Wahnsinnstat von Montereau vertuscht hatte.
Gelegentlich warf Yolande ein belangloses „Unglaublich!“’ oder „Nicht möglich!“ in die Konversation, um Marie am Laufen zu halten. Wahrlich, ihre Tochter war nicht die Schlaueste, doch sie besaß ein unwahrscheinliches Gedächtnis und grub dort mit jeder Stunde, die im Garten verging ein anderes Juwel aus. Die Herzogin hätte am liebsten laut und ungehobelt geflucht, wie die Söldner es zu tun pflegten, als ihre Tochter de Châtel noch einmal hart verdammte und als wüsten Schlagetot und heimlichen Nekromanten beschimpfte. Sie selbst hatte ihn gewiss nicht geliebt, den Provos von Paris und alle seine geheimnisvollen Plänkeleien mit der Schwarzen Kunst, doch alles was man der Herzogin zugetragen hatte, deutete darauf hin, dass er der Einzige in Ponthieus gesamtem Umfeld gewesen war, der nicht nur aus purem Eigennutz gehandelt hatte.
„John Buchan, Konnetabel von Frankreich“, murmelte Yolande leise, „was für ein blödsinniger Entschluss, ausgerechnet diesen Mann auszuwählen! Seine einzige Motivation es ist, Henry Lancaster zu schaden, damit sein eigener Vater Albany sich oben in Schottland anstelle der Stuarts ungestört auf den Königsthron setzen kann.“
Während Marie weiter plapperte und dabei ihren jüngeren Schwestern beim Spielen im Garten zusah, dachte die Herzogin von Anjou nach. De Châtel . Er war vielleicht nicht der bestmögliche Mann an der Seite von Ponthieu gewesen, doch um vieles besser, als alle anderen, die Charles‘ kleinen Hofstaat ausmachten und auf jeden Fall ehrlicher um Frankreich besorgt, als jener John Stuart, Earl of Buchan, der jetzt ungehindert das Schwert des Konnetabel in der Hand hielt. Doch was konnte sie dagegen unternehmen?
Während eine der beiden jüngeren Schwester der anderen mit einem seidenen Schal die Augen verband, kam Yolande plötzlich ein Name in den Sinn: Arzhur de Richemont, der Eber von Breizh... Der jüngste Bruder von Yann de Montforzh!
Wenn es gelingen würde, einen Mann vom Schlage Richemonts neben Charles zu platzieren, dann hatten sie vielleicht eine Chance sich gegen Lancaster zu stellen. Die Herzogin nickte. Ja, Richemont!
Sie würde einen Boten in die Bretagne schicken und Yanns Bruder bitten, sie in Angers aufzusuchen. Jetzt, wo die Penthièvres endgültig geschlagen und diese elende Farce der Entführung von Montforzh zu einem Ende gekommen war, konnte Arzhur es wagen sich auf den Weg an die Loire zu machen. Sein Bruder saß wieder fest im Sattel und regierte das Land unangefochten.
Eine der Hofdamen drehte gerade ihre jüngste Tochter beim Spiel ein paar Mal im Kreis, bis sie die Orientierung verlor und rannte dann selber weg, um sich einen verborgenen Platz zu suchen. Marie schmunzelte. Die Kleine stolperte verunsichert und mit weit nach vorne gestreckten Händen auf ein Rosenbeet zu. Die Mädchen, die sich vor ihr versteckten, warteten still, bis sie sehen konnten, dass die kleine Yolande ihren Irrtum bemerkt hatte. Dann rief eine von ihnen ganz leise: „Hier bin ich!“ und ihre jüngste Schwester drehte sich um.
Arzhur de Richemont! Charles würde einen Soldaten, wie ihn benötigen, falls er jemals den französischen Thron besteigen wollte, keinen selbstsüchtigen Ausländer, wie John Stuart, der eigene, königliche Ambitionen hegte und Frankreich lediglich als Schachbrett benutzte, auf dem er nur genug Figuren herumschieben musste, um seinen englischen Erzfeind und Widersacher Henry Lancaster von Schottland abzulenken.
„Sie wird eine ganze Weile brauchen, bis sie herausfindet, wo ihre Freundinnen sich verstecken“, bemerkte Marie d’Anjou belustigt und riss Yolande aus ihren Gedanken. Schließlich fing sie an, der Mutter von dem Tanzvergnügen zu erzählen, dass der junge Baron de Laval kurz nach dem Sieg bei Baugé anlässlich von La Hires Geburtstag veranstaltet hatte. Sie hatten sich köstlich amüsiert. Es war ein herrliches Fest gewesen und Laval hatte es an nichts fehlen lassen. Er hatte sogar eine Truppe von Schauspielern engagiert, die den Fall und Tod des Herzogs von Clarence nachstellten. Marie erwartete gespannt, was die Weihnachtszeit an neuem Zeitvertreib bringen mochte.
„Laval?“ Yolande blickte ihre Tochter neugierig an. Natürlich wusste sie, dass Marie vom jungen Enkel des berüchtigten Baron Jean de Craon sprach. Dieser bereitete den Ordensmitgliedern von Santiago Sorgen, seitdem ein aufgeweckter, junger Bruder von Saint Benoît seine Loyalität für Ambrosius de Cornouailles über seine Loyalität zur Heiligen Mutter Kirche gestellt hatte und durch ein vom Krieg zerrissenes Land geritten war, um vom Diebstahl einer sonderbaren Handschrift aus der Gruft eines Mannes zu berichten, der nachweislich einen Lapis Philosophorum geschaffen hatte. Dass der gleiche Alchimist mit Hilfe des Steins Blei in Gold verwandelt und auch noch herausgefunden hatte, wie man ihn gebrauchte, um auch die legendäre Lacta Philosophiae herzustellen, war das zweite, wichtige Detail.
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