Die Ebenhöhe hatte beinahe den Außenwall erreicht. „Das Pech“, brüllte Charles de Penthièvre zu seinen Männern hinüber, „ versucht, sie mit dem Pech zu übergießen! Jetzt!“ Er selbst hielt den Bogen gespannt. Ein Brandpfeil lag bereit auf der Sehne und seine Augen fixierten eine wunde Stelle an dem Belagerungsgerät. Sie befand sich direkt zwischen der obersten Plattform und den Schießscharten der herzoglichen Bogenschützen.
Sein älterer Bruder Olivier hatte sich aus dem Staub gemacht. Alles, was der Jüngere der beiden Söhne von Marguerite de Clisson verstanden hatte, war das man ihm, der mit dieser ganzen üblen Geschichte überhaupt nichts zu tun gehabt hatte die Verteidigung von Champtoceaux gegen den wütenden Eber Richemont überließ: Seine Mutter und sein Bruder erwiesen sich wieder einmal als feige, kleine Intriganten. Und am Ende würde er die Suppe auslöffeln müssen!
Charles biss die Zähne zusammen. Das war ihre größte Chance, denn wenn es ihm jetzt gelang, seinen Pfeil genau in den dicken Hanfseilen zu platzieren, dann würde das hölzerne Gebälk in Flammen aufgehen, wie ein Haufen trockenes Reisig. Am Ende hing ihr Schicksal vom Mut und der Überzeugung jener Männer ab, die das brennende Gerüst vorwärts schieben mussten. Sollten sie es schaffen, sollte die Entfernung zwischen der Ebenhöhe und dem Wall stimmen, wenn sich die Zugbrücke der oberen Plattform rasselnd auf die Zinnen des Walles senkte, dann würde wildes Kriegsgeschrei den Anfang vom Ende von Champtoceaux signalisieren.
Was in Hunderten von Jahren weder die Nordmänner, noch die Engländer und die heimtückischen Franzosen geschafft hatten, war in dieser Stunde für den Bruder von Yann de Montforzh, Arzhur, den Eber von Breizh, in greifbare Nähe gerückt: die Bezwingung der Uneinnehmbaren an den Ufern der Loire!
„Jetzt!“ brüllte eine Stimme zu ihm hinüber. Bestialischer Gestank nach versengendem Menschenfleisch drang an Charles’ Nase. Er konzentrierte sich, spannte die Sehne bis zum Zerreißen. Das Holz seines Bogens ächzte und stöhnte vor Schmerz, dann schnellte sein Brandpfeil in die Stricke und eine Stichflamme erhellte für einen kurzen Augenblick die Nacht. Charles atmete tief und füllte seine leeren Lungen mit Luft. Er seufzte. Es war zu spät gewesen. Alle Anstrengungen waren vergebens. Der jüngere der beiden Penthièvre-Brüder ließ seinen Bogen sinken. Seine Augen starrten fassungslos auf die Ebenhöhe.
Von der obersten Plattform zischte und blitzte es und ein Hagel von eisernen Kugeln ergoss sich über den Verteidigern. Genau in diesem Augenblick signalisierte ein dumpfer Knall einen anderen Treffer der Bombarden. Schreie klangen vom nördlichen Wachturm an sein Ohr, als die Mauer von Champtoceaux brach und Angreifer und Verteidiger ohne Unterschied unter sich begrub. Die ersten Montforzh ergebenen Ritter drängen über die Zugbrücke der Ebenhöhe in seine Burg. Jene Verteidiger die nicht zu benommen oder zu verstört waren, versuchten im Gegenangriff den Belagerungsturm zu entern. Charles beobachtete entsetzt das grausige Schauspiel. Sie trafen auf der Zugbrücke waffenklirrend aufeinander. Beim ersten Zusammenprall flogen ein paar der Angreifer in die Tiefe und erschlugen, sterbend, mit ihren schweren Rüstungen ein paar der Knechte am Fuß der Ebenhöhe. Aus den unteren Etagen drängten mehr Angreifer nach oben. Rücksichtslos warfen sie diejenigen, die im blutigen Kampf zusammengebrochen waren über die Zugbrücke. Es war dabei ohne Bedeutung, ob ein Mann tot oder nur verwundet war.
III
Sie hatten ohne einen einzigen Zwischenfall den Gang erreicht. Genau in dem Augenblick, in dem Sévran, Montforzh und Marguerite aus dem Donjon in den Innenhof geführt hatte, war die Außenmauer mit einem lauten Krachen eingestürzt. Alle Augen waren auf die Kämpfenden auf der Ebenhöhe und auf den Wällen gerichtet. Marguerite und Yann konnten in der Dunkelheit nichts erkennen, das die abweisende Glätte der Mauer unterbrochen hätte, zu der Sévran de Carnac sie schweigend und bestimmt führte. Nirgendwo sahen sie eine Tür oder ein Tor, doch die Tatsache, dass der Sohn seines Verbündeten Ambrosius von Cornouailles es geschafft hatte, unbeschadet in die Festung hineinzugelangen, bewies dem Herzog, dass es diesen Weg offensichtlich geben musste.
„Vorsicht!“, flüsterte Sévran plötzlich scharf und hob die Hand. Sie blieben stehen und beobachteten, wie er, unter überhängendem Gestein fast verborgen, ein dichtes Efeugewächs mit der Rechten zur Seite schob. Er ging voran. Sie folgten ihm schweigend. Montforzh warf einen prüfenden Blick nach oben. Wachen waren nicht zu sehen: wozu auch, auf dieser nach der Loire hin gelegenen Seite der Festung, mit einem massiven, feindlichen Angriff, drüben auf der anderen Seite. Zum ersten Mal fiel eine bretonische Festung unter dem lauten, tiefen Grollen von bronzenen Bombarden. Montforzh wollte gerade noch einmal zurückblicken, als er plötzlich bemerkte das Sévran etwas in der linken Hand hielt, das den engen Gang beleuchtete. Mit der Rechten zog der Knappe seines Bruders einen langen, scharfen Dolch.
„Schnell!“ bedeutete er den beiden befreiten Geiseln knapp. Sie drängten sich an ihm vorbei in den engen, dunklen Schlund. Yann bemerkte, dass es keine Fackel war, die ihnen den Weg leuchtete, sondern eine kalte, blaue Feuerkugel in Carnacs bloßer Linker.
So schnell sie konnten, pressten sich die Drei durch den engen, abfallenden Gang unter der Außenmauer hindurch in Richtung auf den kühlen Luftzug, der andeutete, wo die andere Öffnung des geheimen Weges liegen musste. Es roch nach Schimmel und Feuchtigkeit. Man konnte das leise Schlagen der Wasser der Loire gegen ein felsiges Ufer bereits entfernt ausmachen. Die Schreie und der Lärm des Kampfes, der um die Festung der Familie Penthièvre entbrannt war, wurde von den Felsblöcken gedämpft, in die der Fluchtgang vor vielen Hundert Jahren einmal hineingetrieben worden war. Als der Weg sich seinem Ende zuneigte, quetschte Carnac sich an ihnen vorbei, als Erster nach draußen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass dem Herzog und Marguerite an einer solch verborgenen Stelle noch Gefahr drohte, doch der junge Mann wollte offensichtlich erst ganz sicher sein, bevor er seinen beiden Schutzbefohlenen zurief, sie könnten auch ins Freie treten.
Er hatte den schmalen Pfad, der am Ufer entlang durch dichtes Strauchwerk führte entdeckt, nachdem er sich zum ersten Mal durch den geheimen Gang aus Champtoceaux hineingeschlichen hatte. Die Strecke war gefährlich. Geröll und Gestrüpp mussten überwunden werden. Das Ufer fiel steil ab. Die Loire floss an dieser Stelle reißend schnell. Sie war tief und verräterisch und selbst größere Boote hatten hart gegen sie zu kämpfen, um sicher an der Festung der alten Clisson vorbeizukommen. Von der Höhe fauchte grimmig der Lärm des Kampfes hinunter an den Fluss. Marguerite legte ihre Hand vertrauensvoll in die Hand von Sévran, während Yann ihnen vorsichtig folgte.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren“, flüsterte der junge Carnac, „nur noch etwa fünfhundert Schritte trennen uns von Euren Männern und Mesire de Richemont. Wenn wir uns nicht beeilen, dann werden noch mehr aus Eurer treuen Miliz unten an der Ebenhöhe sinnlos verbluten!“
„Dieser Angriff ist nichts weiter, als eine Kriegslist!“ konstatierte Herzog Yann erschüttert.
Sévran presste fest Marguerites kleine Hand und zog sie weiter: „Ja, Mesire es ist nur eine List, damit ich in die Festung hineinschleichen und mit Euch wieder hinausschleichen kann.“
Marguerite verzog den Mund zu einem klugen, kleinen Lächeln. Sie wusste natürlich ganz genau, wie Sévran wirklich nach Champtoceaux hinein gekommen war, doch sie wollte ihr Geheimnis mit niemanden teilen. Sie erwiderten den Druck seiner Hand und folgte ihm weiter die steile Böschung entlang.
Читать дальше