Er würde seiner jüngsten Tochter ihren Willen lassen: Yann räusperte sich und brachte seine Gedanken wieder auf den Punkt.
„Herr! Mein Herr, Herzog und geliebter Bruder“, dröhnte Arzhurs tiefe Stimme durch den Aufruhr der siegestollen Seigneurs, „dieses Rattenloch ist verdammt! Eure Kämpen stürmen bereits über die Wälle. Euer schlimmster Feind ist gebrochen. Es ist nur noch eine Frage von wenigen Stunden und Champtoceaux, Clisson und Penthièvre werden Euch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Dieser Streich ist uns gelungen, weil das ganze Land sich zu Montforzh bekannt hat und alle ohne zu Zögern die Waffen ergriffen haben, kaum dass Eure edle Gemahlin Jeanne den Heerbann ausrufen lies. Doch das Unternehmen ist auch deswegen geglückt, weil einer der Unseren ohne zu Zögern bereit war, sein Leben in die Waagschale zu werfen, um zuerst die Schwächen der Festung zu erkunden und dann hineinzuschleichen und Euch zu befreien.“ Richemont deutete mit der eisenbewehrten Hand auf Sévran de Carnac und seine Augen leuchteten.
Zögernd und beinahe unwillig entließ Sévran, Marguerite aus seiner Umarmung. Als er den Kopf senkte, um sein Unbehagen über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde zu verbergen, fühlte er ihre kleine lebendige Hand in seiner Hand und spürte, wie sie ihn festhielt und ihm mit ihrer Geste Mut zusprach. Wenn Marguerite ihn nicht zurückgehalten hätte, wäre er schon lange irgendwo in der Dunkelheit verschwunden, wo weder Richemont, noch ein anderer wohlmeinender und überschwänglicher Mensch ihn hätte finden können. Der Gedanke daran, dass seine Rolle in der Befreiung von Montforzh in irgendeiner Weise bekannt werden könnte, beunruhigte Sévran in höchstem Maße. Er hatte sich von Arzhur de Richemont ausbedungen, dass man dieses Thema so schnell wie möglich wieder vergaß. Doch offensichtlich war sein Ritter aus irgendwelchen Gründen nicht bereit, sein Versprechen zu halten...
„Ein Schwert!“ Yann de Montforzh bedeutete dem Baron de Porhoët, der im Sattel eines schweren schneeweißen Normannen saß, ihm seine Waffe auszuhändigen. Dann sprach er zu Carnac. Seine Worte waren wohl gewählt und seine Stimme trug über das Kampfgetöse auf den Wällen von Champtocé. Die Seigneurs hatten sofort verstanden, was der Herzog zu tun beabsichtigte, darum zwangen sie ihre Streitrösser mit harter Hand und Sporenstichen einen Halbkreis um Yann, Richemont und den Erben von Cornouailles zu bilden.
Arzhur, dem die übermütige Freude über die Freiheit seines Bruders und den bevorstehenden Fall der Festung von Champtoceaux im Gesicht geschrieben stand, trat neben den jungen Mann. Seine eisenbewehrte Hand packte ihn mit unnachgiebig festem Griff an der Schulter. Marguerite strich im sanft über die Hand und flüsterte ihm ein paar aufmunternde Worte ins Ohr. Sévran seufzte leise und beugte sich schließlich dem Willen der jungen Frau und dem harten Druck seines Lehrmeisters. Er sank vor Herzog Yann auf die Knie. Die Worte, die nun von ihm erwartet wurden, waren ihm wohl bekannt. Er hatte sie in seiner Kindheit oft gehört, wenn einer der Knappen von Concarneau am Ende der Ausbildung den Ritterschlag erhielt.
V
Es war zwar bereits empfindlich kalt geworden, doch die Natur zeigte sich an den Ufern der Loire immer noch von ihrer besten Seite. Sie blinzelte in die strahlende Sonne an einem wolkenlosen, hellblauen Himmel und zog lediglich den langen, pelzverbrämten Mantel etwas fester um die Schultern. Yolande d’Aragón, die Herzogin von Anjou ließ sich auf einer kleinen Steinbank vor den Rosenbeeten nieder. Die letzten Blumen schimmerten noch immer dunkelrot, während die Blätter bereits braun und welk von den Büschen hingen. Sie bedeutete ihrer Tochter Marie, sich neben sie zu setzen. Dann legte sie ihr einen Arm um die Schultern der jungen Frau und zog sie enger an sich.
Marie war erst vor wenigen Tagen gemeinsam mit ihrem Verlobten, dem Dauphin Charles de Ponthieu und ein paar seiner Freunde aus Loques in Angers eingetroffen. Die beiden jungen Leute waren bereits im Alter von drei Jahren miteinander verlobt worden und Charles war zusammen mit Marie aufgewachsen, bis eine Laune seiner Mutter Isabeau de Bavière den damals Fünfzehnjährigen zurück nach Paris gezwungen hatte. Seit der Eroberung der Stadt durch die Burgunder und Charles‘ Rettung durch den bretonischen Renegaten Tanguy de Châtel, waren Marie und der Dauphin wieder vereint und das Mädchen hatte geschworen, ihrem Verlobten niemals wieder von der Seite zu weichen.
Marie war ruhiger und gelassener als Yolandes andere Sprösslinge. Ihr mangelte es sowohl an Scharfzüngigkeit, als auch am typischen Sarkasmus der Mitglieder des Hauses Anjou. Marie war auch weitaus weniger brillant und begabt. Sie besaß weder Yolandes Schönheit, noch die hohe Statur und die makellosen Gesichtszüge ihres Vaters, König Louis von Neapel und Sizilien. Doch dies tat der Zuneigung der Herzogin für ihre Tochter keinen Abbruch. Eher das Gegenteil war der Fall, denn die kleine, farblose und brave „Marie-Souris“, die Maus von Loques, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte, war ihrem Gatten Charles trotz all seiner Fehler, Unzulänglichkeiten und Schwächen treu ergeben. Und sie verstand es gefällig und ohne Unmut über seine Eskapaden in den Betten anderer Frauen hinwegzusehen.
Maries offensichtlicher Mangel an Qualitäten hatte ihr erstaunlicherweise einen festen Platz an der Seite des Dauphins eingebracht. Nicht einmal im Rahmen geheimer Beratungen oder eines Regierungsrates wurde der jungen Frau die Tür gewiesen. Für gewöhnlich saß oder stand sie stumm und mit einem törichten Lächeln auf den Lippen irgendwo in der Nähe von Charles de Ponthieu und bewunderte ihn. Natürlich begriff Marie kaum, was sie hörte, doch Yolande kannte ihre Tochter genau und wusste ihr oftmals sinnloses Geplapper zu interpretieren und vermochte die für sie wichtigsten Informationen sorgsam aus dem Ganzen zu lösen. Die Einladung der Herzogin an ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, ein paar Wochen in Angers zu verbringen, entsprang nicht nur einer Laune von Yolande, oder dem Verlangen die jungen Leute zu sehen. Gerüchte über verschiedene höchst gefährliche, politische Fehlentscheidungen des Dauphin, dessen Situation durch den Verrat von Montereau und den Verrat von Troyes bedenklich geworden war, hatten sie dazu bewogen einen Versuch zu unternehmen, ihren alten Einfluss am Hofe des Thronfolgers zurückzuerobern.
Früher, als Charles noch bei ihr gelebt hatte, hatte er immer ohne zu Zögern auf ihren Rat gehört und sich nach ihren Wünschen und Empfehlungen gerichtet. Doch damals war er noch ein Kind gewesen. Es schien Yolande so, als ob der Fall von Paris sämtliche Karten des Spiels um die Macht in Frankreich neu verteilt hatte: Schon alleine die Tatsache, dass Charles trotz seiner großen, finanziellen Not ein Leben in Loques ihrer Gastfreundschaft in Angers und ihren reich gefüllten Schatztruhen vorzog, unterstrich diese Tatsache. Sie betrachtete Marie von der Seite. Vielleicht hatte sie in ihrem Spatzenhirn ja die Lösung des Geheimnisses.
Vieles deutete darauf hin, dass der Dauphin von irgendjemandem dazu überredet worden war, Abstand zwischen sich und seine überaus mächtige, künftige Schwiegermutter zu bringen. Während der letzten drei Jahre hatte sie sich nur noch Maries bedienen können, um zu Charles vorzudringen. Mit einer knappen, herrischen Handbewegung schickte die Fürstin ihre Hofdamen und ihre beiden jüngsten Töchtern fort. Sie musste in Ruhe und ungestört mit Marie sprechen, wenn sie Antworten auf die Fragen finden wollte, die sie schon seit Monaten quälten.
Da gab es einmal das Gerücht von Charles‘ Verwicklung in das Komplott gegen Yann de Montforzh, den Herzog der Bretagne. Es war ein schlimmes Gerücht! Nach dem heimtückischen Mord an Jean Sans Peur, konnte es ihn das letzte Bisschen an Glaubwürdigkeit kosten, das er noch hatte.
Читать дальше