Endlich konnten die scharfe Augen des jungen Mannes im Schein der zahlreichen Feuer, die die Strohdächer der Festung genauso erbarmungslos auffraßen, wie die hölzerne Konstruktion des riesigen Belagerungsturmes, eine Ansammlung gerüsteter und gespornter Berittener auf schweren Kriegspferden ausmachen. Fahnen und Wimpel flatterten im Nachtwind, doch es war unmöglich zu erkennen, wessen Farben es waren. Nur eine einzige Kriegsfahne hob sich im Schein der Flammen ab: auf reinweißem Grund stand leuchtend ein gewaltiger, kupferroter und sehr zorniger Eber unter einer mächtigen Eiche: „Que qui le vueille!“ brüllte er.
„Mein Onkel“ rief Marguerite durch die Dunkelheit und noch bevor Sévran sie davon abhalten konnten, hatte sie sich von ihm losgerissen und rannte die letzten Schritte zu der Gruppe.
Arzhur de Richemont hatte die Stimme seiner Nichte trotz des unmenschlichen Lärms des Kriegstreibens gehört. Mit einem erstaunlich behänden Satz war er aus dem Sattel. Er breitete die Arme aus und presste nur wenige Augenblicke später den zierlichen Körper der jungen Frau fest gegen das harte Metall seines eisernen Brutspanzers.
„Meine süße, kleine Marguerite“, flüsterte er ihr glücklich ins Ohr. Doch sofort besann er sich seiner Pflichten. Er ließ sie los und schrie den Versammelten der Gruppe in schneller Folge Befehle zu. Pferde wieherten schrill, als ihre Reiter ihnen die Sporen heftig in die Flanken stießen und über das ebene Feld, nach vorne, auf die umkämpfte Festung zu stoben.
Sévran war ein paar Schritte zurück in die Dunkelheit getreten, als sein Ritter auf Herzog Yann zuschritt und sich tief vor ihm verbeugte: „Mein geliebter Bruder. Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet!“
Noch bevor Yann antwortete, rissen unzählige Ritter ihre Schwerter zusammen mit Arzhur de Richemont aus den Scheiden: “Montforzh. Montforzh. Malo au riche duc ! Gwenn Ha Du ! Malo au riche duc ! Gwenn Ha Du !“
Der harte Klang der Schwerter, die auf Schilde geschlagen wurden, übertönte plötzlich das Stechen und Sterben auf den Wällen von Champtoceaux. Richemont war vor Yann de Montforzh auf die Knie gesunken. Seine Augen glänzten und er hielt nur mit großer Mühe die Tränen der Freude und der Erleichterung zurück, als er seinem Bruder und Herzog den mächtigen Beidhänder als Zeichen der Treue und der Ergebenheit entgegenstreckte. Diese Geste Richemonts verwandelte die ritterliche Ehrbekundung für den Herren der Bretagne in tosenden Jubel und Freudengeschrei.
Alleine Marguerite bemerkte in diesem Augenblick der grenzenlosen Erleichterung und des Siegestaumels, wie eine dunkle Gestalt sich aufmachte heimlich in der Nacht zu verschwinden.
„Sévran!“
Anstatt ihn nur zurückzurufen, lief sie ihm einfach hinterher. Und dann ging alles ganz schnell. Er hielt inne und wandte sich zu ihr um. Ein erschöpftes, kleines Lächeln spielte um seinen schmalen Mund. Seine schwarzen Augen hielten die braunen Augen von Marguerite ohne zu blinzeln, fast genauso, wie die Rabenaugen es getan hatten. Vorsichtig, fast zögerlich ergriff sie seine Linke. Ein sonderbarer Ausdruck der Erleichterung überzog Marguerites Gesicht, als das Lächeln von seinem Mund auf seine Augen übersprang und sie mit einem Mal warm und lebendig werden ließ. Dann hielten die beiden jungen Menschen sich plötzlich eng umschlungen, ihr Kopf lag an Sévrans Brust und seine Wange auf ihrem Haar. Sie zitterte leicht und er zog sie enger an sich und küsste sanft ihr Haar: „Es ist vorbei, meine kleine Fee“, murmelte er leise, so dass nur sie ihn hören konnte, „es ist vorbei und niemand wird Dir je wieder Böses tun! Das schwöre ich Dir auf mein Leben. A ma vie!“
Sie gab keine Antwort, sondern hob leicht den Kopf von seiner Schulter und lächelte ihn an. Seine Lippen legten sich vorsichtig auf die ihren. Es war ein sanfter Kuss, nicht viel mehr als eine federleichte Berührung. Sie vergaßen die Welt. Es gab tausend Dinge die jeder dem anderen sagen wollte, doch sie sprachen sie nicht aus, sondern hielten sich nur fest in den Armen. Dann glitt Marguerites Hand von seiner Schulter in seinen Nacken. Sie streckte sich zu ihm hinauf und drückte ihre Lippen fest und bestimmt auf die Seinen. Sein Körper zitterte in ihren Armen genauso leicht, wie der Rabe es getan hatte, wenn sie ihn oben im Turm berührt hatte.
IV
Yann de Montforzh hatte den Mann nicht vergessen, der ihn und seine Tochter aus dem Donjon von Champtoceaux zurück in die Freiheit geführt hatte. Trotzdem war er ein wenig verwundert gewesen, als er beinahe zufällig Zeuge der kleinen Szene wurde, die sich am Rande der Gruppe um Arzhur und seine treuesten Seigneurs abspielte. Während sie ihm noch heftig zujubelten und die geglückte Befreiung ihres Herzogs durch ihren gerissenen Handstreich feierten, hielten sich dort, halb verborgen von der Dunkelheit und ein paar Pferden zwei junge Menschen in den Armen, ganz so als ob sie miteinander nicht nur einfach bekannt waren.
Diese zärtliche Umarmung sprach deutlich von tiefster Vertrautheit und noch deutlicher von so großer Zuneigung, dass selbst ein herzogliches Gebot sie nicht mehr brechen konnte.
In den zwei Jahren, die Sévran de Carnac seinem Bruder nun schon als Knappe gedient hatte, war es Yann niemals aufgefallen, dass der Sohn von Ambrosius de Cornouailles seiner jüngsten Tochter in irgendeiner Weise näher gestanden hätte, als jeder andere beliebige, junge Adelige an seinem Hof. Gewiss, sein kleines Mädchen zog die Ruhigeren unter ihnen den wilden, lauten Tunichtguten vor und gelegentlich hatte er bemerkt, wie sie sich zu Carnac gesetzt hatte, um seinen Lieder zuzuhören oder um ihm eine jener endlos langen, uralten und zutiefst melancholischen Geschichten in Versform zu entlocken, von denen er Hunderte auswendig zu kennen schien. Doch mehr hatte er nie bemerkt.
Yann de Montforzh seufzte, senkte den Kopf und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Warum musste es ausgerechnet der Derwyddon sein? Warum hatte ihr Herz nur jenes unheimliche, dunkle und kalte Geschöpf gewählt, das aus einer anderen Welt und aus einer anderen Zeit stammte? Ausgerechnet jenen Sévran de Carnac, den möglicherweise kaum mehr als sein lebendiger Leib aus Fleisch und Blut an das Hier und Jetzt band und von dem gemunkelt wurde, er wäre tot zur Welt gekommen und erst durch eine uralte Magie unter den Sonnwendfeuern in der Johannisnacht zum Leben erweckt worden. Yann überlegte, doch eine Antwort konnte er nicht finden, nur eine Lösung: er sah eine ganze Reihe politischer Vorteile für die Bretagne am Horizont auftauchen, insbesondere ein verschwenderisch reiches Brautgeld in Form verschiedener befestigter Anlagen an der Küste. Er vermutete, dass Ambrosius seine Insel Bréhat vor der Pointe de l’Arcouest endlich an die Bretagne abtreten würde und möglicherweise auch Noirmoutier und die Ile de Yeu. Außerdem war Sévran selbst Baron von Carnac und damit Herr über eine der gewaltigsten Festungen an der ganzen Atlantikküste. Sie verfügte über hochmoderne Geschützbatterien, die Ambrosius erst kürzlich bei den Spaniern gekauft hatte und dominierte die Einfahrt in den natürlichen Hafen, der vor dem bretonischen Vannes lag. Wer diese Festung besaß, der hielt den gesamten Küstenstreifen bis hinunter nach La Baule und hatte die Macht über die gesamte Mündung der Loire.
Die Docks von Vannes und Nantes waren der Schlüssel des bretonischen Überseehandels, der sich durch die englische Besetzung der Normandie noch ausgeweitet und verstärkt hatte. Mit ihren geschützten Inlandhäfen waren die beiden Städte die Quelle des Reichtums der Montforzh und Yann als hartem Realisten durchaus die Hand einer Tochter wert. Außerdem verfügte der dunkle Hexenmeister aus dem Zauberwald von Brécheliant offensichtlich über viele, weitere Fähigkeiten, die sich in der gefährlichen Zeit, in der sie lebten als durchaus nützlich erweisen konnten. Und sonderbarerweise schien das kalte, unheimliche Geschöpf seiner kleinen Marguerite gegenüber sogar zu so etwas ähnlichem, wie Gefühlen fähig. Er schien sie gar... zu lieben!
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