Jetzt erhob er sich aus seiner Ecke und ging zur Küche.
„Schau!”, sagte Sarah mit Blick auf Kurt. „Pentti hat ihn gestern von der Abendmaschine abgeholt. Er spricht kaum und ist den ganzen Tag draußen.“
Grete schien ihn nicht zu bemerken. Kurt war vor der Kochnische stehen geblieben.
Dann drehte sie sich um. Sie tat das sehr langsam und wie mit dunkler Ahnung. Die stolze Wut verschwand, sie wurde bleich vor Schreck.
„Oh mein Gott!”, sagte sie und ließ ein Messer in die Spüle fallen.
„Hallo Grete“, sagte Kurt.
„Was willst du hier?“ Das Blut schoss ihr ins Gesicht zurück. Die anderen schauten in ihre Gläser und taten uninteressiert. Wohin hätten sie sich verkriechen sollen? Es gab nur diesen einen Raum, in dem jeder seine Wäsche an den Ofen hing.
„Reg dich nicht auf“, sagte Kurt. Er hob die leeren Hände, um zu zeigen, dass er nichts Böses wolle. „Ich will nur mit ihm reden, hörst du? Ich will helfen.“
Grete hielt sich an der Arbeitsplatte fest, wich dann tiefer in die Nische zurück. Schließlich fuhr sie fort, die Lebensmittel einzuräumen, so fasste sie sich. Kurt trat zu ihr und nahm das Messer aus der Spüle, um es in einem Block in Sicherheit zu bringen. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, ließ jedoch die beringten kleinen Finger außen aufliegen.
„Ich brauche keine Hilfe“, sagte Grete. „Es hat sich alles geregelt. Wir haben uns zusammengerauft. Du hast mir schon geholfen.“
„Ich kann mehr für dich tun“, sagte Kurt. „Ich will nur reden mit ihm.“
„Das ist nicht nötig, verdammt. Wirst du mit ihm auf Tour gehen?“
„Da kann er nicht weglaufen“, bestätigte Kurt.
„Aber ich will bei ihm bleiben.“
„Er hat dich geschlagen.“
„Das geht niemanden etwas an. Was fabulierst du da?“ Grete schien jetzt ihre Gäste zu bemerken, die gespannt lauschten. „Er ist gut zu mir! Es geht mir gut!“
„Man darf das nicht hinnehmen“, sagte Kurt.
„Aber ... er war doch betrunken.“
„Lass mich dir helfen“, sagte er. „Ich weiß, dass ihr den Laden aufgeben müsst. Torben hat es mir erzählt.“
„Du informierst dich?“ Grete schaute zum Tisch herüber. „Mein Gott“, rief sie, wischte sich die Hände trocken und floh dann die Treppe hinunter aus dem Haus.
„Wir waren mal verheiratet, Grete und ich“, sagte Kurt in das folgende Schweigen hinein, ohne sich zu setzen. Er zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an, die hinter seinem rechten Ohr gesteckt hatte.
„Wo kommst du her?“, wollte Max wissen.
„Schwarzwald“, sagte Kurt. „Kirchzarten im Breisgau. Grete und ich waren seit der Schulzeit zusammen.“
„Ich gehe auf ein Internat im Schwarzwald“, sagte Paul.
„In Kirchzarten kenne ich einen Oliver Risto“, sagte Max. „Er führt Skitouren und hat selbst Hunde. Er hat mich hierher vermittelt.“
„Das ist ein Freund von uns“, sagte Kurt und meinte damit Grete und sich selbst. „Er arbeitet mit Torben zusammen.“
„Könntest du draußen rauchen?“, bat Sarah.
Die beiden starrten sich einen Augenblick lang an, dann ließ Kurt nach und erhob sich vom Tisch.
„He!“, rief Sarah ihm hinterher. „Weiß Pentti, was da läuft?“
„Nein“, sagte Kurt und blieb stehen, ohne sich umzudrehen. „Er weiß es nicht.“
„Aber wir wissen es jetzt“, sagte Sarah mit ruhiger Stimme. „Und ich mag nicht dein Komplize sein.“ Damit schickte sie ihn zum Rauchen vor die Tür. Paul und Holdin lachten in ihre Gläser. Mächtige Sarah!, dachte Max.
„Wo kommst du her?“, wollte er wissen.
„Datteln“, sagte sie. „Ruhrgebiet. Ich betreibe Sprachschulen. Und ihr?“
„Emsland“, sagte Max. „Großbeesen.“
„Was macht ihr dort?“
Darauf wusste Max nicht zu antworten. Was tat er? Kaufmann, der kein Geld mehr hat. Geschäftsführer, der keine Geschäfte führt. Sohn, der dem alten Achnitz die Rente nicht zahlt und Vater des jungen Achnitz, dessen Erbe er verspielt.
„Max und ich“, sagte Holdin, „wir brennen Schnaps.“ Er war kleiner als Max. Er war auch schlanker und weniger grob gebaut. Er lief gern und war gut in Form.
Sarah lachte. „Getrunken wird immer.“
„Holdin“, sagte Paul so leise, dass Max ihn kaum hören konnte, „er sagt, ich soll vom Internat runter.“
„Das erkläre ich dir später“, erwiderte Holdin.
„Ich bin gekommen“, sagte Sarah und lachte kehlig, „weil ich zu dick werde. Zu viele Süßigkeiten den ganzen Tag. Das macht mir Sorgen. Damit muss ich aufhören.“
„Es steht dir gut“, sagte Max voll ehrlicher Bewunderung.
„Unsinn“, lachte sie. „Ich brauche Zuschauer beim Fasten, das ist alles. Man soll mich bewundern, wenn ich hungere.“
Damit ging sie zur Küche hinüber, um aus Gretes Vorräten das Abendessen zu kochen.
„Sie isst fast nichts“, sagte Holdin.
Max stand auf und betrachtete ein Thermometer am Fenster, das über ein Kabel die Außentemperatur maß. Es zeigte zwanzig Grad unter null an. Holdin kam zu ihm herüber und deutete auf das Thermometer.
„Du musst den Wind dazurechnen“, sagte er. „Pentti hat uns erklärt, dass der Windchill bei minus neunundfünfzig Grad liegt. Das ist zu kalt, um Morgen zu starten.“ Das Fenster schien ein paar Schattierungen dunkler zu werden.
„Pentti glaubt, dass der Wind sich legt. Wir sollen gleich die Hunde mit ihm füttern.“ Es war genau achtzehn Uhr.
Nicht weit von Großbeesen entfernt stand wartend Hans Wagner auf einem Golfplatz und suchte Schutz vor dem Regen unter einem Baum. Er kannte den Mann nicht, den er treffen sollte, doch er wusste sehr wohl, wer das war: Hermann von Achnitz. Der große alte Schnapsbrenner. Der Mann, der den Achnitzer Torfbrand verkörperte und der jetzt als Wohltäter in allen Zeitungen genannt wurde. Er unterstütze Kinder in Rumänien, war dort zu lesen, und er bohre nach Brunnen in Afrika.
„Fahren Sie zum Golfklub Kattenmoorer Land“, hatte man Wagner in seiner Bremer Kanzlei gesagt. „Treffen Sie sich um Punkt achtzehn Uhr mit einem Klienten. Sie finden ihn auf der Driving Range.“ Das sei die Übungswiese, hatte man ihm erklärt, so als ob er das nicht wüsste. Der Klient werde allein dort sein und Wagner solle dessen Anweisungen entgegennehmen und befolgen. Ein paar Tage Abwesenheit und ... ein Augenzwinkern: Warme Unterwäsche mitnehmen. Das war alles.
Wagner war achtunddreißig Jahre alt, rund, dick und stand auf viel zu kurzen Beinen. In seinen schwarzen Dreiteilern hätte er vertrauenswürdig aussehen sollen, doch er wirkte plump. Die feisten Backen und das dünne Haar ließen ihn drollig wirken. Das hatte seiner Karriere als Rechtsanwalt fast so sehr geschadet wie die Tatsache, dass er niemanden kannte, der ihn hätte protegieren wollen. Die Kollegen in der Wirtschaftskanzlei schätzten und fürchteten seine Machenschaften zugleich und nur wenige Klienten vertrauten ihm persönlich ihre Vertretung an. Meist arbeitete er deshalb seinen Partnern zu.
Hohe Bäume umgaben die Driving Range, das Flutlicht verlor sich im kalten Nebel, der auf der Wiese lag, die in etwa die Ausmaße eines Fußballfeldes besaß. Wagner ging an einem durchwühlten Sandbunker vorbei auf eine Abschlaghütte am Ursprung des Lichtkegels zu. Fächerförmig von diesem Verschlag ausgehend lagen auf der Wiese verstreut weiße Bälle herum, die eifrige Golfer im Laufe des Tages dort hingeschlagen hatten. Im hintersten Drittel des Rasens zog ein Elektrokart seine Runden und bot ein lohnendes Ziel. Auf dem Dach blinkte ein gelbes Licht. Das Gerät war zu groß, um ein Aufsitzmäher zu sein, und zu klein für einen Traktor. Der Fahrersitz war von einem Drahtkäfig umgeben, der vor Golfbällen schützte. Wie Schnee sammelte es die Bälle ein, die auf dem Boden lagen.
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