Die Hände in die Taschen des neuen Parkas gestopft breitete Max die Arme aus wie Flügel und ließ sich vom Wind an den Zwingern vorbei treiben. Hier ging es zu dem Fluss hinunter, der das Tal gegraben hatte. Eis und Schnee schimmerten blau in der Ferne und legten eine leere Landschaft bloß. Das Tal lag weit offen, es schien viel breiter zu sein, als es ihm während der Fahrt vorkam. Südöstlich war der See Altevatn gestaut. Den Damm konnte Max nicht sehen, doch er wusste, wo er lag.
Die Daunenjacke hielt den Wind ab, die dünne Hose ließ die Kälte durch. Max spitzte die Lippen erneut, um zu pfeifen, wie man es im Wald tun soll. Es gelang ihm nicht, der Wind riss jeden Laut mit sich. Aus dem Schutz der Gebäude heraus war er noch stärker geworden. Er stellte sich vor, wie er zu Hause in Großbeesen durch den Ort lief und die Leute sich wegdrehten. So ließ er sich treiben und bald verloren die Schuhe auf dem frei gefegten Eis jeden Halt.
Da klingelte und vibrierte es in seiner Hosentasche. Wütend kramte er unter all der Kleidung das Handy hervor. Sein Vater, sagte das Display. Der alte Achnitz.
„Nicht jetzt!“, schrie Max das Telefon an und warf es in hohem Bogen in die Dunkelheit. Er fiel hinten über, so wild hatte er geworfen … und rutschte weiter, bis ein Fuß eine Wurzel fand, die ihn stützte.
Das Handy klingelt noch eine Weile.
Max atmet zu kurz. Schweiß bricht ihm aus und der Magen will sich umdrehen. Er bekommt keine Luft. Der Wind weht ihm die Kapuze vom Kopf. Es bläst ihm mehr in den Mund hinein, als er ausatmen kann. Ruhig bleiben ... obwohl das schier unmöglich ist. Er wird wütend und verliert zu viel Kraft. Nichts, um sich daran festzuhalten.
Da ging oben am Blockhaus ein Licht an. Eine Frau erschien am Fenster. Schwarzes Haar. Mittellang. Ein bleiches, rundes Gesicht. Sie hob eine Hand an die Stirn gegen die Spiegelung und starrte ins Dunkle, als hätte sie etwas gehört.
Max rief und winkte, aber sie sah ihn nicht. Er kroch auf allen Vieren auf sie zu und wollte sie festhalten ... als sich ihm plötzlich ein Handschuh entgegenstreckte.
Da standen Schneeschuhe vor ihm. Eine schwarze Thermohose, ein vermummter Kopf unter einer Fellmütze.
Die Frau am Fenster tauchte kurz ab, richtete sich wieder auf und verschwand. Das Licht ging aus. Einer der Hunde fing zu heulen an und alle anderen folgten ihm, als ob es ein großer Spaß sei, bis der Lärm schließlich abebbte.
„Kommen Sie“, rief eine männliche Stimme.
Max ergriff die Hand und richtete sich auf. Der Mann war groß und hager, schien aber sehr kräftig zu sein. Er griff Max unter die Achsel und stützte ihn, als er erneut stolperte.
„Danke“, sagte Max, als sie den Windschatten des Blockhauses erreichten. „Ich stehe in Ihrer Schuld.“
Der Mann zog sich die Maske vom Kopf. Er war strohblond und hatte ein bleiches und weiches Gesicht. Blaue Augen.
„Wollen Sie Morgen mit auf Tour gehen?”, fragte er.
„Ja“, sagte Max. „Ich heiße Maximilian von Achnitz.“
„Kurt Henkelmann. Hören Sie“, antwortete Kurt, „ich werde die nächsten Tage nicht auf Sie aufpassen können. Verstehen Sie?“
„Das wird nicht nötig sein.“
Endlich betrat Max das Blockhaus. Da war zunächst die Diele, um Schuhe und Überkleidung auszuziehen. Die Stiege führte hoch in den Wohnbereich. Max nahm seine Taschen mit, während Kurt sich noch auszog.
Sie saß mit Paul und Holdin an einem grob gehauenen Tisch und schaute neugierig herüber. Die Möbel waren aus massivem Birkenholz gefertigt, ebenso die Täfelung des gesamten Raumes. Hinten hingen zwei dunkle Fenster in der Wand. Rechts und links trennten mehrere Türen die Schlafkammern ab.
„Mein Vater“, sagte Paul frech grinsend zu der Frau mit den schwarzen Haaren. Sie erhob sich.
In der Mitte des Raumes stand ein Kanonenofen, um den herum an drei Seiten ein mannshohes Holzgestell gebaut war. Max roch das brennende Holz und hörte das Bullern des Ofens und sofort wurde ihm warm. An dem Gestell hingen Socken, Unterwäsche, Handschuhe, Mützen, Jacken und Hosen zum Trocknen. Handtücher. Die Filzeinsätze für die dicken Winterstiefel hatte man mit Wäscheklammern an Leinen aufgehängt. In den Geruch des Rauches mischte sich der sehr intime nach Schweiß. Drei Tische mit den zugehörigen Bänken umlagerten den Ofen.
Sie hatte grüne Augen und war ganz in Schwarz gekleidet. Strumpfhosen, die mehr verrieten, als sie verhüllten. An den Füßen warme Puschen, ein weiter Wollpullover mit V-Ausschnitt. Darunter trug sie einen weißen BH. Vollschlank. Auf der Gesichtshaut und am Halsansatz hatten Sonnenstudios erste Spuren hinterlassen. Unter der Bräune waren Sommersprossen zu erkennen. Sie roch nach Creme und ihr Gesicht glänzte leicht.
„Sarah“, sagte Holdin, „das ist Maximilian von Achnitz. Max, das ist Sarah Schmitt.“
Ihre ernsten Augen hatten ihn blitzschnell gemustert. Das fiel auf. Ihr Händedruck war so fest, wie sein eigener. Dann lächelte Sarah und Max fühlte sich geborgen. Er hätte ihr auf der Stelle das ganze Leben erzählt, wenn sie es nur verlangen würde. Paul war sitzen geblieben und schaute ihnen zu. Sein Parka trocknete auf dem Holzgestell.
Kurt kam die Treppe hoch und grüßte kaum. Seine Winterkleidung hatte er unten gelassen und trug stattdessen eine dunkelgrüne Hose mit Taschen an den Beinen. Er zog den Kopf zwischen die mageren Schultern, zwängte sich an Max’ Koffern und an Sarah vorbei, die sich kaum Mühe machte, ihm Platz zu lassen, nahm sich ein Buch, das auf dem Tisch lag und setzte sich in eine hintere Ecke des Raumes. Niemand stellte ihn vor.
Max und Holdin umarmten sich zur Begrüßung, wie Jungen es tun, denen etwas gut gelungen ist. Sie klopften sich auf die Schultern, während Sarah sich setzte.
„Komm“, sagte Holdin, „mach es dir bequem. Ich hole uns ein Bier.“
Max zog wie alle anderen die Schuhe aus und brachte die Taschen in eine der Kammern, die Paul ihm zeigte. Zwei Etagenbetten mit vier Schlafplätzen standen dort drin. Keine weiteren Möbel. Auf den Betten ausgebreitet lag die Ausrüstung, die Holdin gekauft hatte.
Max setzte sich zu den anderen. „Kurt dort ...“, sagte er und wies mit dem Kopf in die Ecke, „habe ich schon kennengelernt. Er hat mir das Leben gerettet. Mein Gott, ich bin fast erfroren! Ich wollte einen Blick hinter das Haus werfen. Der Wind hat mich umgeworfen. Dich, Sarah …“ er prostete ihr zu, „habe ich kurz oben am Fenster gesehen. Kurt hat mir aufgeholfen.“ Er nickte ihm in seiner Ecke zu und spürte eine deutliche Spannung im Raum. „Ich danke dir!“
Kurt brummte irgendetwas, vergrub sich tiefer in sein Buch und erschrak jäh. Unten ging die Tür auf und schlug wieder zu. Der Wind stieß einen Schwall kalter Luft nach oben. Grete kam die Stufen hochgestiegen und Kurt senkte den Blick. Sie trug eine der Styroporboxen aus dem Bulli. Max und Holdin sprangen auf, um ihr zu helfen. Neben der Treppe befand sich eine Kochnische.
„Danke“, sagte Grete. Sie schien ständig wütend zu sein und kümmerte sich nicht um ihre Gäste. Max setzte sich, während sie Lebensmittel aus der Box in Schränken verstaute. Links neben der Küche sah er zwei Türen mit den Aufschriften „Badezimmer“ und „Toilette“. Alles war in Deutsch beschriftet. Ein Wandregal hielt deutsche Bücher und Zeitschriften bereit.
Sarah beugte sich zu Max herüber, während Grete in der Küche lärmte. „Sie ist wütend, weil sie allein zurückbleiben muss“, flüsterte sie. „Es ist sehr einsam hier.“
„Sie könnte mitfahren“, schlug Max vor. Sarah zuckte mit den Schultern.
Der blonde Kurt legte jetzt das Buch auf den Tisch. Er trug dicke Ringe aus Silber an beiden kleinen Fingern. Die glatten Haare hingen ihm ins Gesicht. Seine hellen Augen lagen im Schatten tiefer Höhlen und um den Hals hatte er sich einen dunkelroten Seidenschal geschlungen. Er rieb sich die dünnen Hände und wirkte rastlos. Wie quer im Leben stehend.
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