Selbst das Hundefutter würden sie mitschleppen müssen. In Innset am Rande des Sees Altevatn lag die Hundefarm von Torben Haag, einem Deutschen, der vor Jahren hierher ausgewandert war. Er würde nicht ihr Guide sein, denn er war längst ausgebucht. Sie wollten mit einem Norweger fahren, der mit Torben zusammenarbeitete. Pentti Aalto hieß der Mann, mehr wusste Max nicht. Es interessierte ihn nicht.
Max hatte keine Ahnung, wer die Frau war, die fuhr, doch sie hatte nicht gezögert, als sie in den Bulli einstiegen. Vermutlich sprach sie Deutsch, wollte nur nicht.
Eine Gestalt tauchte im Scheinwerferlicht auf. Mitten im Wald dem Wind und dem Wetter trotzend schob jemand einen Kinderwagen auf Kufen die Straße entlang. Rechts und links standen jetzt Häuser zwischen den Birken. Ein einsamer Ort, doch es schien eine Siedlung zu sein. Die Wege waren vom Schnee geräumt. Unter einer Laterne am Straßenrand verbreiterte sich die Fahrbahn zu einem Parkplatz.
Dort hielten sie rutschend an. Ein Schaufenster war zu sehen, das vor Monaten schon verhängt worden war. Max fiel ein Schild auf, das den Platz zur Bushaltestelle erklärte. Das Haus schien bewohnt zu sein. In der Mitte führten drei Stufen hoch. Daneben stand ein Mann und schaute von der Arbeit auf, als sie hielten. Er hackte Holz und hatte bereits einen ansehnlichen Stoß unter dem Schaufenster gestapelt. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit Ohrenklappen, die er jetzt mit dem Handrücken zurecht schob.
„Sehe keine Hunde“, sagte Paul.
„Vielleicht hinter dem Haus“, antwortete Max. „Das scheint ein Laden zu sein.“
„Bleiben Sie sitzen“, sagte die Frau, aber Max war schon ausgestiegen. Es genügte jetzt.
Sie knallte die Wagentür zu und ging ohne Gruß in das Gebäude. Paul stieg ebenfalls aus. Der Mann kam auf Max zu und reichte die Hand.
„Pentti?”, fragte Max. „Pentti Aalto?“ Der Mann lächelte ein wenig schief. Ihm fehlten der kleine und der Ringfinger an der rechten Hand, sodass man sie nicht richtig greifen.
„Welcome!”, sagte Pentti. Er sprach es „welcum“ aus. „Cum in.“
„Denk daran“, sagte Max zu Paul, „dass wir hier zu Gast sind.“
„Kennel is away“, sagte Pentti und wies die Straße hinunter. Gleich dort sei die Hundefarm. Er ging ins Haus und knipste im Laden ein Licht an, das von den braunen Holzregalen fast vollständig verschluckt wurde. Neben der Treppe stand ein Besen, mit dem sie sich die Schuhe reinigten, bevor sie eintraten. Im Vorraum hing Winterkleidung zum Trocknen. Die Regale waren halb leer. Ein Geruch nach Staub, Schmierfett und Ruß empfing Max. Da lagen Eisbohrer und Eisangeln herum. Es gab Filzmützen, Filzschuhe, derbe Overalls aus dunkelblauem Cordura, Konserven und andere haltbare Lebensmittel. Gepökelten Fisch, Schneeschaufeln, Schneefräsen und Defrostermittel in Fünfliter-Kanistern. Ein Plakat wies auf einen Skilanglauf hin, ein anderes auf eine Rallye, die im letzten Sommer ausgetragen worden war. Ganz im Hintergrund ein Verkaufstresen, davor ein Tisch mit zwei Bänken. Kinderzeichnungen von Engeln und Teufeln. Eine Kreidetafel hing an der Wand. Die Frau saß dort. Sie hatte von irgendwo her eine dampfende Tasse Kaffee geholt und schaute ihnen zu.
In einer Ecke stand Ausrüstung zusammengestellt.
„Take“, sagte Pentti und deutete auf zwei Boxen aus Styropor, die Max und Paul sich nahmen. Die Frau sagte etwas auf Norwegisch, was unhöflich klang. Pentti antwortete nicht, sondern ging mit einer dritten Box voraus nach draußen.
Sie schoben die Kästen in einen der Käfige auf dem Bulli. Pentti hieß sie einsteigen und startete den Wagen. Die Frau trat aus der Tür und Max sah zum ersten Mal ihre Augen. Sie waren blau. Ihr langes blondes Haar trug zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr in den Rücken hing. Sie wich seinem Blick aus und stieß mit einem Fuß gegen den Holzstoß, den Pentti aufgeschichtet hatte. Der Stoß kam ins Rutschen und fiel in sich zusammen. Sie kümmerte sich nicht darum.
„Is wife“, sagte Pentti, gab Gas und ließ seine Frau im Dunkeln stehen. Er lachte sein schiefes Lachen und zeigte die Zähne. „Is Grete aus Deutschland. Must stay home.“ Rückwärts fuhr Pentti aus dem Licht heraus.
Max schätze ihn auf Anfang vierzig. Dann wären sie gleichaltrig. „Das kommt vor“, sagte er zu seinem Sohn nach hinten. „Manchmal streiten sich Mann und Frau.“
„Aha“, sagte Paul und Max verstand nicht, was er damit meinte.
Die Farm lag nur ein paar hundert Meter die Straße entlang, die jetzt leicht bergan stieg. Eine Rampe führte auf einen Hof, der von drei Gebäuden umschlossen wurde. Ein großer Zwinger begrenzte die offene Seite, der in der Dämmerung kaum auffiel.
Rechts lag ein zweistöckiges Blockhaus. Über der Haustür in der Mitte der Langseite brannte eine Glühbirne und darunter leuchtete gelb ein schmales Fenster.
Alle anderen Gebäude waren dunkel. Pentti fuhr quer über den Platz und hielt vor einem Klafterschuppen.
„Hütte“, sagte er auf Deutsch und zeigte auf das Licht. Max und Paul stiegen aus, der Wind riss ihnen die Autotüren aus den Händen. Pentti kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern machte sich an einem Schneemobil zu schaffen, das im Schuppen stand.
„Was sollte das denn?”, fragte Max, ohne eine Antwort zu erwarten.
Ihr ganzes Gepäck war in zwei kleinen Taschen verstaut. Max verließ sich auf Holdin. Nur eine Art grünen Köcher hatte er noch mitgenommen, der kaum Platz bot für ein paar Skistöcke. Die Taschen trugen sie zum Blockhaus, hinter der Tür fand sich eine Diele, wo sie sie abstellten. Eine Stiege führte hoch in die Wohnräume.
„Lass mir noch ein paar Minuten“, sagte Max und zündete sich eine Zigarette an. „Geh zu Holdin. Er müsste oben sein.“ Murrend verschwand Paul hinter der Holztür.
Max nahm einen Zug aus der hohlen Hand und stellte sich in die Mitte des unebenen Platzes. Der Sturm fegte brüllend durch ein Tal, das ihm kaum Widerstand bot. Die Kälte biss Max in die Wangen und klebte in den Nasenlöchern. Der Wind war so stark, dass man sich auf ihn legen wollte. Er zog die Kapuze mit dem Fellrand über den Kopf. Jetzt drangen alle Geräusche von vorn zu ihm. Ihre Richtung ließ sich nicht mehr deuten. Max spürte die lächerliche Angst, die ihn seit einiger Zeit quälte, und die er immer wieder suchte wie eine Wunde, die man ständig betastet. Er hörte knirschende Schritte und drehte sich um, doch da war niemand.
Der Sturm schmeckte wie ein Kupferpfennig, an dem man lutscht. Max’ Kopf dröhnte. Kälte ist Leere und scheinbar wollte ihm der Schädel in diese Ödnis bersten … aber es war auszuhalten und ging vorbei.
Manchmal wäre er gerne tot. Das kam so über ihn in der letzten Zeit. Wie Sodbrennen kam der Gedanke immer wieder hoch.
Das zweite Blockhaus war größer. Das musste das Haus von Torben sein. Im Schuppen startete Pentti im Licht einer Stirnlampe das Schneemobil und fuhr davon. Max ging mit dem Wind auf den Zwinger zu. Der war innen in neun kleinere Käfige unterteilt. Zwischen ihnen lag ein Gang in der Form eines liegenden T. In den einzelnen Verschlägen standen mehrere Hundehütten im Schnee. Die Hunde schlugen nicht an, als Max näher kam. Die meisten hatten sich wohl in den Hütten verkrochen, denn nur wenige liefen unruhig hin und her oder hockten stumm im Wind und schauten zu ihm herüber. Das Rasseln von Ketten machte ihn auf einen umzäunten Auslauf links vom Zwinger aufmerksam. Hier gab es eine ganze Reihe weiterer Hütten, diese in Form eines einfachen Zeltes. Davor war jeweils ein Hund angekettet. Max lockte sie pfeifend. Ein fast völlig schwarzes Tier erhob sich, streckte sich und bemerkte ihn, gähnte in den Wind hinein und jaulte ganz kurz auf. Es schnüffelte die Hütte entlang, hob ein Bein, kam zurück, schüttelte rasselnd sein Halsband und legte sich schnaufend wieder in den Schnee.
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