So blieb die hinterpommersche Heimatstadt für Anita lebenslang ihr Paradies.
Bis ins hohe Alter ‚lebte’ sie mit ihren Erinnerungen in dieser Zeit der frühen Kindheit. Ihre Erinnerungen gehen erstaunlich weit in die frühe Kindheit zurück. Ihre sehr sensible Grundstruktur lässt sie alles im Detail erfassen und bildhaft beschreiben. Hier einige Texte aus ihrer Feder, in denen sie aus dieser ihrer Kindheit berichtet:
Beim morgendlichen Aufwachen freue ich mich schon riesig über die Sonnenstrahlen, die unser Kinderzimmer in eine Leuchtstube verwandelt haben. Dann darf ich heute auch gewiss mein schönstes Sommerkleid anziehen; das ganz dünne Weiße, aus durchsichtigem Voile, mit den bunten Blümchen darauf gestickt. Und ich brauche keine Schuhe anzuziehen. Herrlich, diese Leichtigkeit! Aber Schleifen hat mir die Mutter ins Haar gebunden, und im Spiegel schaut mir fast ein pastellfarbener Schmetterling entgegen, der sogar fröhlich singen kann. Eine kindliche Unbekümmertheit nistet sich in mir ein, so als könne mir niemand diesen goldenen Sommertag verderben. Geschwind laufe ich die Treppen herunter und spiele mit anderen Kindern auf der Straße Murmeln knipsen. Spielend kullern die kleinen Kugeln aus Ton, aber die Begehrtesten sind die aus Glas mit bunten schillernden Farbmustern darin. Meine nackten Füße bohren sich in den lockeren Sand hinein. Die warme Luft liebkost meinen kleinen fast nackten Körper. Später laufe ich durstig und hungrig zur Mutter in die Wohnung. Heute gibt es etwas Besonderes zu essen: Grießbrei mit Blaubeeren.
Nach dem Mittagsschlaf wird es draußen zunehmend dunkler. Es ist sehr schwül geworden, immer mehr dunkle Wolken rücken dicht zusammen. Dann folgen Blitz und Donner, und schon fallen die ersten Regentropfen auf die staubige und durstige Straße. Ich stehe gespannt am Fenster und schaue mir das wahrhaft himmlische Naturereignis an. Jetzt prasselt der Regen in dicken Tropfen laut an die Glasscheiben. Doch nach einer Weile hört es schon wieder auf zu regnen. Auf der Straße fließt nun im Rinnstein ein liebliches Bächlein entlang. Wohlig ist es, mit den nackten Füßen in der warmen Matsche zu wühlen, wie in einer dunklen Breimasse. Im weichen nassen Sand kann ich meine kleinen Fußabdrücke hinterlassen. Die Luft ist frischer geworden und der Himmel wieder blau und klar.
Am Abend gehen die Eltern, eine Tante und meine Brüder zusammen mit mir in unseren großen schönen Garten. Wir Geschwister spielen noch Fangen miteinander, über Beete hinweg und durch Wege entlang, hinter Hecken, Büschen und Sträuchern geduckt. Die letzten weißen Johannisbeeren, die die Mutter beim Pflücken übersehen hatte, schmecken mir köstlich. Ringelblumen, Löwenmäulchen, Kapuzinerkresse und all die vielen schmackhaften Früchte geben dem Garten eine ganz besondere Stimmung, eine bunte lachende Fröhlichkeit, wie in einem Paradiesgarten, zumindest für Kinder; denn manchmal höre ich die Mutter stöhnen, wenn sie gebückt in der Sonne das massenweise Unkraut jätet. Wenn sie aber die Blätter der Gurken etwas hochnimmt und die großen langen Früchte sieht, frohlockt sie: „Oh, oh.“ Wir Geschwister warten heute ungeduldig darauf, dass es dunkel wird. So lange darf ich sonst nicht aufbleiben. Aber heute ist ja ein ganz besonderer Tag, an dem wir den Sommer feiern wollen. Unsere Tante hat uns nämlich Lampions mitgebracht, die von eigenwilliger Schönheit sind. Meine Brüder bekommen Papierlaternen in Form eines Truthahns und Gockelhahns geschenkt, und ich darf einen schillernd bunten Erpel-Lampion mein eigen nennen. Endlich fängt es langsam an zu schummern, und ich setze mich schon erwartungsvoll in die gemütliche Laube auf die rustikale Holzbank, die mein Vater gezimmert hat. Diese Laube ist ringsherum dicht mit Stangenbohnen umwachsen, und auch die Blätter der rankenden Gemüsepflanze ergeben ein dichtes schützendes grünes Dach. Ich fühle mich in dieser Behausung wie in einem Naturparadies, einem Ort der Glückseligkeit.
Mit frischen Möhren, die noch Wassertropfen an ihren Spitzen haben, kommen die Brüder von der Regentonne her gelaufen und geben auch mir etwas „Futter“ gegen den aufkommenden Hunger. Danach holt unsere Mutter die Kerzen aus der Tasche, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Das Aufstecken der Lichter in den Laternen und das Richten der Haltegriffe ist offenbar Vatersache. Inzwischen ist es auch tatsächlich dunkel geworden, und es weht kein Wind. Mit einem Streichholz zündet unser Vater die Lichter in den wunderschönen Lampions an, und erst jetzt kommen die Farben so richtig zu ihrer Geltung. Und alle Seligkeit auf Erden hat in meinem kleinen Kinderherz Platz. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, mit dieser herrlich bunten Papierlaterne in der kleinen Hand, die ich als Leuchtkugel hoch gegen den tiefdunkelblauen Sommernachthimmel hielt. Aber ich bin gewiss, dass dieser goldene Sommertag einer der schönsten Tage in meinem Leben war.
An meine fröhliche Mutter
Ich denke jetzt mit zunehmenden Jahren so oft
in großer Dankbarkeit an dich.
Du hast mich vom beginnenden Frühling,
wenn im Wald die ersten gelben Schlüsselblumen blühten,
bis in den späten bunten Herbst hinein
fast jeden Nachmittag in deinen großen
wunderschönen Garten mitgenommen.
Du warst eine liebevolle fröhliche Gärtnerin.
Ich habe dich niemals stöhnen gehört,
auch wenn im Sommer die Sonne heiß
vom blauen wolkenlosen Himmel schien,
hast du mit Freuden den großen Korb
mit roten Erdbeeren randvoll gefüllt
und bis nach Hause geschleppt.
Liebe Mutter, ich sehe dich noch heute,
wie du mit dem abgerundeten Holzstil der Harke,
in die vorbereiteten Beete
Rillen in die fein geharkte Erde gezogen
und dann mit dem Samentütchen in der Hand
Radieschen, Möhren, Kapuzinerkresse,
Ringelblumen und Goldlack
in gebückter Haltung ausgesät
und mit deiner fleißigen Hand
mit Erde zugedeckt hast.
Die schönste Laube mit den rot blühenden Stangenbohnen
war aus Glück geflochten, sie schenkte mir,
wenn ich auf der Holzbank in der Naturlaube saß,
Geborgenheit und Glückseligkeit.
Und wenn ich leicht wie ein bunter Schmetterling
auf den Wegen durch den fruchtigen Paradiesgarten hüpfte,
von den roten und weißen süßen Johannisbeeren
und zarten Schoten naschte,
war ich im Himmel auf Erden.
In sehr dankbarer Erinnerung
an meine längst verstorbene
fröhliche Mutter und begeisterte Gärtnerin.
Als Kind hab ich
die Schlüsselblumen gepflückt,
die da blühten im nahen Wald.
Der Mai war da
und Muttertag.
Ich wollte den Dank
an meine Mutter
reichlich und sichtbar
in meinen kleinen
festen Händen haben.
Wenn es draußen ungemütlich wird und die ersten Nachtfröste im Wetterbericht angekündigt werden, dann werden immer noch alte Kindheitserinnerungen in mir wach. Damals vor über 70 Jahren hatten in Hinterpommern die Wohnungen für die kalte Jahreszeit alle Doppelfenster, die im Sommer in der Bodenkammer aufbewahrt wurden. Wenn aber die ersten kalten Herbststürme um die Häuser Blasmusik machten, und die letzten Blätter von den Bäumen fegten, dann schleppte mein Vater die schützenden Doppelfenster die vielen Treppenstufen vom Dachboden bis in unsere Wohnung. Doch bevor der Vater den ‚Kälteschutz’ einsetzte, putzte meine Mutter die Glasscheiben erst blitzblank. Im Wohnzimmer stand ein großer brauner Kachelofen, der eine behagliche Wärme verbreitete. Das Heizmaterial für diesen Wärmespender wurde rechtzeitig beim Kohlenhändler bestellt. Ich kann mich noch heute an die Männer erinnern, wie sie von der schweren Last gebeugt, ihre dunklen Kapuzen über ihre Köpfe gezogen hatten, und die gefüllten Säcke mit Kohlen, Holz und Briketts in unseren Keller trugen. Es war dann unseres Vaters Amt, die anthrazitfarbenen glänzenden Briketts fein säuberlich an einer Kellerwand aufzustapeln. Auf einem Hackklotz spaltete der Familienvater die dicken Holzscheite zu feinem Anmachholz, immer etwas auf Vorrat, damit die Mutter von dieser Arbeit befreit war.
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