Die psychosomatische Medizin ist keine Spezialdisziplin, ganz bestimmt keine neue Wunderlehre. Was sie neu entwickelt, wozu sie auffordert: eine andere Krankheitsauffassung.
Anita – Herkunft, Kindheit, Jugend
Anita kam vor Ausbruch des 2. Weltkrieges in einer heute zu Polen gehörenden preußisch-pommerschen Verwaltungs- und Beamtenstadt als drittes Kind der Familie zur Welt.
Ihr Vater Franz war drittes Kind eines einfachen Arbeiters, der im 1. Weltkrieg „für Kaiser und Reich“ gefallen war. Seine Mutter war als Kriegerwitwe darauf angewiesen, die karge Versorgungsrente durch eigene Arbeit (Fischverkauf) aufzubessern. Franz’ Lehrer rieten der Muter, den begabten Jungen das Gymnasium besuchen zu lassen. Doch diese wehrte ab: „Die älteren Brüder durften das auch nicht. Also braucht es auch Franz nicht.“ Der Geigenunterricht wurde abgebrochen, als der wilde Junge damit auf der Treppe stürzte und das Instrument dabei Schaden nahm. Durch diese frühen falschen Weichenstellungen wurde der weitere Lebensweg des hoch begabten Franz entscheidend auf falsche Geleise geführt, so dass er sich später beispielsweise Anerkennung bei Frauen auch außerhalb der Ehe suchte. Alkoholmissbrauch kam hinzu, der sich besonders krass auswirkte, weil Franz unter Alkoholeinfluss oft sehr aggressiv und unbeherrscht reagierte. Einer seiner älteren Brüder soll ich „tot gesoffen“ haben.
Wie heißt es doch schon in dem alten Buch? – 2. Mose, Kapitel 36 – „…der die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied…“ Eine geborgene glückliche Kindheit – das wussten schon die Vorväter – ist die Grundvoraussetzung für eine gesunde Lebensentwicklung.
Anitas Mutter Emma stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie hatte zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester. Als sie vor der Ehe schwanger wurde, wollte der Erzeuger nicht zu seiner Vaterschaft stehen: „Deine Schwester ist doch Krankenschwester, da wird sich wohl ein Weg finden lassen!“ Aber Emma lebte nach dem Grundsatz: „Lieber eins auf dem Kissen, als auf dem Gewissen!“ So verheimliche sie die Schwangerschaft, solange es ging. In der Verwandtschaft gab es mehrere Frauen, die ihren Gang zur ‚Engelmacherin’ mit folgender Kinderlosigkeit bezahlten. Emmas Eltern akzeptierten ihre Mutterschaft nicht: „Was sollen denn die Nachbarn denken?!“ Ein uneheliches („unehrliches“) Kind galt damals noch als Schande. Sie musste das Kind in einer Klinik in einer größeren Stadt entbinden, wo sich niemand aus der Familie um sie kümmerte: „Wenn andere Besuch bekamen, drehte ich mich zur Wand und weinte bitterlich.“ Das Kind – ein Knabe – kam in ein Säuglingsheim, weil die Großeltern weiterhin ablehnend waren. Zunächst sollte die Vaterschaft und die Unterhaltszahlungen des Erzeugers geklärt werden. Von Hospitalismus und den daraus resultierenden schweren Störungen ahnte man nichts. Erst, als die Oma sah, wie sich die verheerenden Entwicklungsrückstände auch körperlich zeigten, nahmen sie das Kind auf und taten nun alles, um den Kleinen wieder aufzupeppeln. Dort bei den Großeltern wuchs das Kind dann auf und musste die frühkindlichen psychischen Schäden später als erwachsener Mann schmerzhaft psychotherapeutisch aufarbeiten. Seine Begabungen und sein enormer Fleiß ließen ihn in Eigeninitiative mehrere Sprachen erlernen und sich beruflich qualifizieren.
Als der Erzeuger der Mutter Emma dann irgendwann doch die Ehe anbot, war es zu spät. Inzwischen hatte Emma – war es Liebe oder Torschlusspanik? – den Franz kennen gelernt und geheiratet. Der hatte zuvor auch bereits zwei Kinder vorehelich in die Welt gesetzt.
Franz und Emma hatten zusammen zunächst zwei Söhne, bevor Anita geboren wurde. Beide Jungen waren sehr begabt, vor allem der Älteste. Der Jüngere befand sich natürlich als ‚zweiter Bruder’ in einer schwierigen Familienkonstellation, zumal ihm ständig sein begabter älterer Bruder als Vorbild vor Augen gehalten wurde. Der hoch begabte Ältere, dem alles zuflog, hat dennoch sein das Studium abschließende Examen verpatzt, weil er – der früher immer sehr solide lebte – sich als Student dem Suff hingab. Erst im zweiten Anlauf riss er sich zusammen und schaffte den Abschluss doch noch. Er ging dann seinen beruflichen Weg zwar erfolgreich, aber sein älterer Halbbruder meinte kritisch, er habe es bei der Begabung mit mehr Zielstrebigkeit erheblich weiter bringen können.
Als Anita geboren war, war ihr Vater überglücklich, einer Tochter zum Leben verholfen zu haben.
Da es „dem Führer“ teils durch günstige Konstellationen, teils durch massive Aufrüstung gelang, die große Arbeitslosigkeit zu überwinden, jubelten ihm Ende der 1930er viele Deutsche zu. Auch Vater Franz war wieder in Arbeit und Brot. Obwohl Franz immer wieder zu Alkoholabusus neigte und dann gewalttätig werden konnte, sorgte er doch durch regelmäßige Arbeit als Verwaltungsangestellter für seine Familie. In einer Zeit, zu der man noch keine digitalen Rechner kannte, waren seine Kopfrechenkünste sehr gefragt. Daher gelang es ihm auch später als Soldat, sich als Rechnungsführer in der heimischen Garnison als ‚Etappenhengst’ lange als unabkömmlich vom Fronteinsatz frei zu halten.
So wuchs Anita in früher Kindheit – trotzt immer wieder erlebter schmerzlicher Erfahrungen mit dem doch geliebten Vater – trotz ambivalenter Erlebnisse zunächst recht geborgen auf.
Anita konnte ihren Eltern, besonders der Mutter nie verzeihen, dass sie rauchten und Nikotin-abhängig waren. Als sie mal ein Arzt fragte, ob sie geraucht habe, war ihre Antwort: „Ich war eine pränatale Kettenraucherin.“ Nach einer ihrer Entbindungen fragte die Mutter den Arzt unmittelbar nach der Geburt: „Herr Doktor, jetzt kann ich mir doch eine anstecken?“ Zwar hatte Emma sich das Rauchen einige Jahre vor ihrem Tode „mit eisernem Willen“ abgewöhnt, starb aber dennoch an Lungenkrebs.
War eines der Kinder krank, gab es etwas Besonderes, um das das kranke Kind von den Geschwistern beneidet wurde, zum Beispiel eine heiße Zitrone oder ein Brötchen. Ob das dazu beigetragen haben könnte, dass Anita gerne ‚in Krankheit flüchtete’? Ihr Halbbruder schenkte ihr später mal, als sie schon erwachsen war, ein Buch mit dem Titel ‚Krankheit als Weg’.
Anita war ein hübsches Mädchen, hatte aber einen ‚Silberblick’, eine Augenmuskelschwächung, unter der sie, je älter und eitler sie wurde, litt. Eine Hausnachbarin damals zur Mutter: „Auch, wenn sie hübsche Löckchen hat, aber sie schielt.“ Dieser Sehfehler wurde Jahrzehnte später im Erwachsenenalter durch eine kosmetische Augenoperation behoben, so dass dann die durch die Misere bedingten die Persönlichkeit beeinflussenden Minderwertigkeitsgefühle teilweise abgebaut werden konnten.
Das Kind Anita sang und tanzte gerne. Es war von Anfang an immer ganz an die älteren Brüder gewöhnt, bei denen es sich geschützt und geborgen fühlte, von denen es viel lernte, auch die von den Brüdern oder den Eltern gesungenen Lieder und Schlager der Zeit. Auch die Gedichte und Balladen, die die Brüder meist laut auswendig lernten, verinnerlichte sie und konnte die Texte noch nach Jahrzehnten zitieren. Die Liedtexte waren sogar im hohen Alter bei fortgeschrittener Demenz und Verlust des Namensgedächtnisses bei Anstimmen der Melodie immer noch präsent.
Als Mutter von vier Kindern stand Emma nicht nur das „Mutterkreuz“, sondern auch ein „Pflichtjahrmädchen“ (Reichsarbeitsdienst) zu. Auch, als ‚der Führer’ zunächst Polen, dann andere Länder überfallen und besiegt hatte und danach in seiner Hybris auch in die Sowjetunion einfiel, wo er ‚Lebensraum’ für seine germanischen Volksgenossen erobern wollte, blieb es in Hinterpommern trotz alliierter Luftangriffe auf deutsche Großstädte und der Wende an der Ostfront noch sehr lange fast idyllisch ruhig.
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