Wie wunderbar ist es, dass Kinder in ganz jungen Jahren wie unter einer barmherzigen liebevollen Glocke geschützt sind und in Unbeschwertheit und Fröhlichkeit leben und spielen dürfen. Ich denke, nur so können Menschen das spätere Leben bewältigen.
Aber je mehr Lieder wir fröhlich sangen, umso mehr baute sich eine spürbare Spannung in mir auf, die immer stärker und fast unerträglich wurde: Was werde ich wohl vom Christkind bekommen? Endlich hatte unsere Mutter ein Erbarmen mit uns Kindern. Ich war damals das Nesthäkchen unter vier Geschwistern. Unsere Mutter nahm das weiße Tuch vorsichtig von dem Gabentisch und faltete es fein zusammen. Jedem zeigte sie den Platz, an dem seine Geschenke lagen. Mein schönstes Geschenk passte Weihnachten 1944 nicht auf den Gabentisch. In einer anderen Ecke des Weihnachtszimmers lüftete meine Mutter eine Wolldecke, und ein heller wunderschöner Puppenwagen, in dem eine noch schönere Puppe mit dunklen echten Zöpfen lag, kam zum Vorschein. Ich war sehr glücklich darüber. Trotzdem erkannte ich die zarte Wagendecke und den niedlichen dunkelblauen Anzug mit schicker Baskenmütze. Diese begehrenswerten Sachen hatte meine Mutter nämlich vor einigen Wochen selber auf der Nähmaschine angefertigt. Das hatte ich ja beobachtet. Das Puppenmädchen taufte ich noch am Heiligabend auf den Namen Ingrid. Die langen dunklen Zöpfe meines neuen Puppenkindes waren eine gute Beschäftigung für mich. Ich löste die Zöpfe und lernte so das Flechten. Weil wir eine kinderreiche Familie waren, hatten wir auch ein so genanntes Pflichtjahrmädchen zum Arbeiten im Haushalt und für die Kinderbetreuung. Und diesem jungen sehr netten Mädchen gehörte bis kurz vor Weihnachten der Puppenwagen mit der wertvollen Puppe. Meine Mutter hatte per Tausch diese Glückseligkeit für mich erstanden. Abends sang ich meinem neuen Puppenmädchen ein Wiegenlied vor.
Am zweiten Weihnachtstag kam unsere Oma Berta zu uns. Meine Mutter fuhr hochschwanger nach Neustettin, der deutsche Name der seit 1945 polnischen Stadt Szczecinek, um unseren Vater zu besuchen. Neustettin lag von unserer Heimatstadt nur 68 km südöstlich entfernt. Die Rote Armee hatte die Deutschen, die ihr an Menschen und Material zehnfach unterlegen waren, zu dem Zeitpunkt noch nicht weiter gen Westen treiben können. Unsere tapfere Mutter hatte wohl Bedenken, unseren Vater vielleicht nicht mehr wiedersehen zu können. Doch wir Kinder spielten hingebungsvoll mit unseren neuen Geschenken. Mitten im tobenden Krieg waren unsere jungen Kinderseelen zum Glück vor dem Ausmaß der kommenden unausweichlichen Katastrophe durch das Noch-nicht-verstehen-können liebevoll geschützt.
Im Herbst 1944 wurde Anita als Sechsjährige noch in der hinterpommerschen Heimat eingeschult. Vor 1945 war in den größeren Orten die Trennung in Jungen- oder Mädchenschulen noch üblich. Drei Schülerinnen mussten sich ein Lesebuch teilen. Immer öfter gab es jetzt auch in Hinterpommern Fliegeralarm. Da die Schule nicht weit von der Wohnung entfernt war, durfte Anita dann schnell nach Hause laufen und dort in den Luftschutzkeller gehen. Auch nachts gab es Fliegeralarm, und im Keller war es immer sehr kalt.
Anfang März 1945 stieß die sowjetische Rote Armee von Süden her in Richtung Ostseeküste vor und stand mit ihren Panzern vor den Toren der Heimatstadt Anitas. Die Sirenen heulten Panzeralarm, und einer der Brüder sagte in Panik zur Mutter: „Mama, die Russen kommen!“ Vater Franz befand sich schon längere Zeit als Soldat an der Front. Mitte Februar – gut drei Wochen vorher – hatte Mutter Emma ihr fünftes Kind geboren, lag also noch im Wochenbett – damals standen Mütter nicht gleich nach der Entbindung auf. Als sie Anfang März ihren Arzt aufsuchte, hörte sie von ihm: „Sehen Sie zu, dass Sie unverzüglich mit ihren Kindern die Stadt verlassen, es geht noch ein Zug raus“. Die dramatische Flucht war ein kindliches Trauma für das sechsjährige Mädchen. Aus Anitas Feder lesen wir darüber:
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