Wie sie bald merkte, trug sie nicht mehr die selbe Kleidung wie vorher und da sie kalten Steinboden unter ihren Füßen spürte, musste sie barfuß sein. Wer hatte ihr die Sachen ausgezogen? Warum war sie hier?
Weitere Stunden verstrichen, sie bekam Hunger und vor allem immer größere Angst. Leise flüsterte sie:
"Hallo? Ist hier denn niemand?"
Angst, niemals mehr das Tageslicht zu sehen. Angst, plötzlich irgendwo hinein zu fallen und sich zu verletzen. Angst, dass kein Licht hier hinein kommen würde. Angst, dass ihr Entführer zurückkehrte und ihr wehtat. All diese Gedanken flogen in ihrem Kopf herum und ließen sie beinahe wahnsinnig werden. Sie begann etwas schneller zu gehen.
Ihre Stimme erhob sich und rief: "Hallo? He! Hallo!"
Keine Antwort. Sie bekam Panik und rannte los.
Unwissend, wohin und ob überhaupt in eine bestimmte Richtung, rannte sie durch die Dunkelheit. Nach einiger Zeit machte sie Pause, sie war am Ende ihrer Kräfte und außer Atem. Sie wollte gerade schon wieder weiter, als sie aufhorchte. Waren da nicht eben Schritte? Oder nur ein Echo ihrer eigenen Füße? Ängstlich stampfte sie mit einem Fuß auf. Zwei Stampfer kamen als Antwort.
"Ha-hallo? Ist da jemand?"
Sie versuchte in dieser undurchdringlichen Finsternis etwas zu erkennen, was gründlich missglückte. Auf einmal hörte sie ganz nahe ein leises Atmen. Ihre Hand fuhr herum, um zu tasten - da war nichts.
"Na, mein Täubchen? Haben wir uns etwas verlaufen? Soll ich dich hinaus führen? Oder soll ich noch etwas Spaß mit dir haben? Mal überlegen..."
Die kalte Stimme mit dem sarkastischen Unterton hallte überall wider und verstummte. Das Mädchen zitterte vor Angst. Momentan blind, waren die eben gehörten Sätze wie Schreie in ihrem Kopf. Sollte sich ihre Befürchtung eines Peinigers etwa bewahrheiten? Gleichzeitig mit ihrer Angst keimte aber auch eine geringe Hoffnung, dass sie jemanden zum Reden hatte und er sie möglicherweise hinaus führte.
"Wer hat da eben gesprochen? Bitte komm her und zeig dich mir. Ich habe Angst so allein hier im Dunkeln. Bitte komm her."
"Aha, wir haben also Angst, wie? Interessant. Nur leider kümmert mich das herzlich wenig, mein Täubchen. Im Gegenteil, es amüsiert mich. Zittere weiter so, das sieht zauberhaft aus."
Das Mädchen fragte sich, wie die Stimme hier überhaupt was erkennen konnte.
"Sag mir wenigstens, wie ich die Stimme anreden soll, die du hast."
Ein Kichern war zu hören.
"Wie du mich anreden sollst ... Nun, wie wäre es denn mit einem Namen, der dir gefällt? Ich habe viele Namen und gleichzeitig keine. Sprich mich an, wie du willst."
Das Mädchen dachte kurz nach, dann sagte sie etwas weniger ängstlich:
"Ich nenne dich Nigma, weil du momentan ein Rätsel für mich bist."
"Nigma also, wie? Fein, der Name gefällt mir."
Nun war die Stimme wieder ganz nahe.
"Und, mein Täubchen? Wie soll ich dich anreden?"
"Ich heiße Felina."
Nigma kicherte vergnügt.
"Erfreut, dich kennenzulernen, Felina. Es ist mir eine Ehre."
Dann war es wieder still. Felina konnte noch immer nichts erkennen, meinte aber, dass sich langsam etwas Ungeheuerliches in ihre Nähe bewegte. Die Luft wurde drückender, bis sie schließlich kaum auszuhalten war. Es roch nach Tier, obwohl Felina nicht hätte sagen können, um welches Tier es sich handelte. Aber etwas war da, ganz dicht bei ihr.
"Hab keine Angst, Felina. Ich und mein Freund tun dir nicht weh."
Die kalte Stimme von Nigma entschärfte die gruselige Stimmung etwas. Doch seltsamerweise kam sie von weiter oben als vorher. Es schien, als sei Nigma in der kurzen Zeit gewachsen. Vorsichtig tastete Felina in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nach einer kurzen Leere zwischen den Fingern packten ihre Hände plötzlich in weiches Fell.
"Was ist das, Nigma? Wer ist da bei dir?"
Nigma kicherte und antwortete mit seinem üblichen Tonfall.
"Mein Freund. Hab keine Angst, Felina. Er ist mein Freund."
Das haarige Etwas bewegte sich raschelnd und plötzlich erklang leise ein Glöckchen.
"Was war das?" wollte Felina wissen.
"Ein Erkennungszeichen meines Freundes. Ich bin schließlich beinahe so blind wie du in dieser Finsternis. Da muss ich wissen, wo mein Gefährte sich aufhält, wenn ich ihn benötige. Und nun komm mit uns."
"Aber Nigma, wohin denn? Und wie, wenn ich euch nicht sehen kann?"„Halte dich nur gut in dem Fell meines Freundes fest, du tust ihm nicht weh. Und wohin die Reise geht, wirst du bald genug erfahren. Vertrau mir einfach, Felina. Du hast keine andere Wahl."
Das sah sie ein und tat, was Nigma von ihr verlangte. Sich von Nigma und seinem Gefährten führen lassend, hoffte Felina, dass irgendwann wieder Licht an ihre Augen kommen würde.
Ein Meister und eine Entführung
Es war einer dieser Tage, die Caspar schon öfter während seiner Zeit auf See hatte. Er wurde wach und direkt stieg ihm dieser spezifische Duft in die Nase. Es war der Duft von Fleisch, das man nicht würde essen können. Und an so einem Tag stand der alte Seebär auf, ging runter in die Küche und da stand Eldrit mit einem verkokelten Gesichtsausdruck.
"Guten Morgen, mein Bester. Wie du siehst, ist mir wohl der Braten etwas verbrannt."
Caspar kratzte sich am Bart und beschloss, nichts zu dem Vorfall zu sagen. Ohne weiter nachzufragen, ob es Sitte von Eldrits Volk war, am frühen Morgen Braten zu essen oder ob man dort überhaupt wusste, wie ein Braten gemacht wird, säuberte Caspar in aller Ruhe die Küche. Eldrit wischte sich das Gesicht ab und stellte sich beschämt in den Kücheneingang. Nebenbei wanderte sein Blick durch den unteren Teil der Wohnung seines Schützlings, Freundes und Gastgebers.
Direkt links von der Eingangstür stand ein großer Eichenschrank, in dem hinter einer Glastür viele verschiedene Fotos von Schiffen, Matrosen und Häfen aufbewahrt und regelmäßig abgestaubt wurden. Der Schrank befand sich im Wohnzimmer, das man sofort betrat, wenn man ins Haus kam. Das große Sofa mit dem graubunten Muster, auf dem Caspar hin und wieder einschlief, stand direkt in der Mitte, davor ein langer Marmortisch. An der weißen Raufasertapete hingen viele Abzeichen, die Caspar auf seinen langen Reisen über Jahre hinweg erhalten hatte. Bis auf eine kleine Kommode in einer Ecke neben der Treppe stand sonst nichts weiter in dem großen Raum mit der vergoldeten Lampe an der Decke. Vom Wohnzimmer aus ging es in die Küche und die Treppe hinauf zu Schlafzimmer und Bad.
Caspar lebte sehr einfach und benötigte keinerlei modischen Kram. Er war ein Verehrer des Mittelalters und des Wilden Westens. Viele Jahre lang war er der Kapitän verschiedener Schiffe gewesen. Er führte seine Mannschaften über alle Seewege und litt an vielen ausländischen Krankheiten. Alles hatte er schon überstanden und sich darum einen Ruhestand sogar mehr als verdient. Doch nun waren nacheinander dieser Trollenprinz und dann auch noch der Cheberim aufgetaucht. Vorbei war es mit der Ruhe, dem Frieden und stillen Angeltagen am Strand. Vorbei die Zeit, als er und der aufgeweckte Pépe die Unterwasserwelt erkundet hatten. Caspar war jedoch regelrecht begeistert davon, endlich mal wieder echte Abenteuer zu bestehen. Die letzten Jahre auf See waren eher schleichend dahin gegangen und hatten keine wahre Herausforderung mehr für den rauflustigen Kapitän geboten. Da kamen Kämpfe mit bösen Kreaturen und Bekanntschaften mit mysteriösen Leuten gerade recht.
"So, das wäre geschafft. Jetzt kann sich meine Küche wieder sehen lassen", schnaufte Caspar und legte den Putzlappen aus der Hand.
In der Tat konnte Eldrit keine Spur mehr von seinem Chaos entdecken. Alles blitzte und strahlte.
"Man sieht, dass du nicht nur ein ausgezeichneter Kapitän bist. An dir ist ein Hausmann verloren gegangen", lachte der Prinz.
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