1948 zogen wir in eine eigene Wohnung in der Straße Sandbrink im Ortsteil Hasserode. Sie lag im Haus eines ehemaligen Schuldirektors und war auch nicht groß genug für uns alle. In der Zeit entwickelten sich die ersten festen Freundschaften. Mein bester Freund im Sandbrink wurde ein Junge aus dem Sudetenland. Er hatte einen tollen Märklinbaukasten gerettet, und wir betrieben einen ausgedehnten Tausch- und Leihhandel mit den Teilen. Manchmal hatte ich mehr Bauteile bei mir zu Hause als Jürgen. Das änderte sich erst nach Intervention seiner Eltern. In einem Jahr bekam ich zu Weihnachten ein großes handgearbeitetes Lastautomodell mit Anhänger geschenkt. Meine Mutter hatte es einem im Hause wohnenden Feinmechaniker für einen Sack Mehl abgetauscht. Leider ist das Auto nicht mehr in meinem Besitz. Es landete nach einigen Jahren als Tauschobjekt bei einem meiner Freunde. Heute wäre es eine wertvolle Rarität.
Damals spielten die Kinder aus einer Straße viel draußen zusammen. Es bildeten sich Straßenbanden, die auch mal gegeneinander kämpften. Schlecht war es, wenn man alleine durch feindliches Gebiet durch musste. Da wurden schon mal lange Umwege in Kauf genommen. Besonders erinnere ich mich an die Versteckspiele in den Nachbargrundstücken bis in die Dunkelheit hinein. Als Kind kamen einem die Grundstücke sehr groß und die Wegstrecken sehr lang vor. Bei späteren Besuchen wunderte man sich wie klein alles war.
In den warmen Sommerwochen verbrachten wir unsere Freizeit im Freibad, und ich lernte dort alleine das Schwimmen. Als kleine Jungen mussten wir das Bad um 18:00 Uhr verlassen. Wir machten uns einen Sport daraus, die Zeit so lange wie möglich zu überziehen. Um die paar Pfennige Eintritt zu sparen, kletterten wir an einer uneinsehbaren Stelle über den Zaun. Dabei wurden wir schon mal vom Bademeister erwischt und aus dem Bad gejagt.
Ich habe damals schon viel Zeit mit Lesen verbracht, war Mitglied in allen Büchereien im Ort, sogar in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in der es eine kleine Bibliothek gab und verschlang alles Lesbare, das mir in die Finger kam, ob ich es verstand oder nicht. Außerdem sammelten wir schon Briefmarken.
Das führte zu meiner ersten „Straftat“. Im Nachbarhaus wohnten zwei Brüder, deren Onkel ein Schreibwarengeschäft mit Leihbücherei betrieb, in der ich auch Mitglied war. Die Brüder erzählten uns, dass beim Onkel auf dem Hinterhof ein Schuppen stände, in dem viel altes Papier und Briefe lägen. Das wollten wir untersuchen und zogen mit einem Leiterwagen los. Leider war der Schuppen verschlossen. Wir brachen das Schloss auf und luden unseren Leiterwagen mit alter Geschäftspost voll. Zu Hause teilten wir die Beute. Es waren wirklich schöne Briefmarken dabei, bis aus der Kaiserzeit. Einige Tage später bekamen meine Eltern vom Amtsgericht eine Vorladung. Der Onkel hatte Anzeige erstattet. Meine Mutter und ich gingen zum Gericht, an dem gleich das Gefängnis angebaut war. An den Fenstern sah man die Gefangenen stehen, und ich sah mich auch schon dort. Nach dem Verhör, in dem ich kleinlaut und reuig die Schuld auf die Brüder schob, die ich sowieso nicht leiden konnte, bekam ich die Auflage, mich bei dem Onkel zu entschuldigen. Das fiel mir sehr schwer. Aber weil ich weiter seine Bücher lesen wollte, entschuldigte ich mich doch, und mir wurde verziehen. Was meine arme Mutter mitgemacht hat, kann ich nur ahnen. Meine erste Briefmarkensammlung verkaufte ich vor meinem Weggang in den Westen an einen Händler, der mich bei dem Geschäft ordentlich übers Ohr gehauen hat. Wie gewonnen, so zerronnen.
Weil meine Schwester aus einem Dorf bei Magdeburg als Lehrerin an die Thomas-Müntzer-Schule in Wenigerode versetzt worden war und bei uns wohnen wollte, zogen wir 1950 in den ersten Stock eines kleinen alten Fachwerkhauses in der nicht weit entfernten Straße Unter dem Ratskopf 50. Damit ging für mich eine schöne Zeit zu Ende, weil in der Straße nicht so viele gleichaltrige Kinder wohnten. Außerdem war ich ja schon 10 Jahre alt, die Schule stellte höhere Anforderungen, und meine Schwerpunkte verlagerten sich.
Die Wohnung lag im Obergeschoss und bestand aus lauter schrägen Zimmern. Nur das kleine Wohnzimmer hatte gerade Wände mit zwei normalen Fenstern und einem kleinen Kachelofen. Die Küche in der Dachabseite war mit einem alten schwarzen Kleiderschrank als Küchenschrank, einem Tisch, dahinter einer Liege und einem kleinen flachen Aluminiumkochofen, einer so genannten „Kochhexe" möbliert. Kaltwasser bekamen wir aus einem Wasserhahn über einer gusseisernen Spüle. Die beiden kleinen und dunklen Schlafzimmer lagen auch in der Dachabseite und hatten je ein eine kleine, bis auf den Fußboden reichende Fensterluke wie in der Küche.
Unsere Matratzen bestanden aus mit Holzwolle gefüllten Säcken, die nach einiger Zeit steinhart wurden. Im Winter war manchmal morgens Eis an den Schlafzimmerwänden. Abends nahmen wir angewärmte Ziegelsteine mit ins Bett. Das Familienleben spielte sich meistens in der Küche ab, weil es da noch am wärmsten war. Mein bevorzugter Platz war die Liege, auf der ich abends, wenn mein Vater zu seiner Nachtarbeit war, bis spät rumlag und las. Das Wohnzimmer wurde von meiner Schwester als Arbeitszimmer benutzt. Später konnte ich dort auch meine Schularbeiten machen.
Die Küche diente auch als Badezimmer. Die Katzenwäsche wurde unter dem Kaltwasserhahn erledigt. Am Wochenende wurde manchmal in einer Zinkwanne gebadet. Später gab es im Ort eine Badeanstalt, wo man für 50 Pfennige ein Wannenbad nehmen konnte.
Es gab auf dem Hof zwei Toiletten, so genannte Plumpsklos, mit einer Grube unter dem Holzsitz, natürlich ohne Licht. Im Dunkeln mussten wir eine brennende Kerze mitnehmen, die auf dem Weg zum Örtchen oft genug ausging. Dann saß man im Dunkeln und graulte sich. Klopapier gab es auch nicht. Man benutzte zerrissenes Zeitungspapier, das geknüllt und gerubbelt wurde, damit es etwas weicher wurde.
Für mich waren Haus, Hof und Garten ein schönes, wenn auch verbotenes Spielrevier. Der alte Hauswirt war Postbeamter gewesen und hatte noch viele alte Bücher aus der Kaiserzeit auf dem Boden liegen. Heimlich stöberte ich oft auf dem Boden in den alten Sachen und Büchern herum. Ich konnte auch die verschlossene Tür einer kleinen Kammer neben unserer Wohnung mit einem selbst gebastelten Dietrich öffnen. Darin lagen auch viele interessante Sachen, unter anderem ein dickes Bündel mit Inflationsgeld. Ich habe aber immer alles wieder an seinen Platz gelegt und nichts mitgenommen.
Der Hauswirt hatte als Soldat schon an dem 1871er Krieg gegen die Franzosen als Lanzenreiter (Ulan) teilgenommen.
In einer Ecke im Hof standen noch die Lanzen mit den langen eisernen Spitzen. Ich attackierte damit die Obstbäume im Garten hinter dem Haus. Die Löcher müssen jetzt noch in den Bäumen sein.
Um die Ernährung etwas aufzubessern, hielt mein Vater im Hof bis zu 30 Kaninchen. Hühner hatten wir auch, so dass wir genug Fleisch und Eier hatten. Wenn mein Vater schlachtete, machte sich meine Mutter immer aus dem Staub. Sie bereitete die Kaninchen in allen Variationen zu, aß selbst aber keinen Happen davon. Ich weiß nicht, ob sie sie verabscheute, oder ob sie ihr Leid taten. Meine Schwester ließ die Karnickel manchmal frei im Hof herumlaufen. Es dauerte oft sehr lange, bis wir sie wieder einfangen konnten. Die Futtersuche war ein Problem, weil wir keine Wiese zum Gras- und Heumachen hatten. Mein Vater holte mit dem Leiterwagen auf langen und mühsamen Wegen Brennnesseln aus dem Wald, die von den Karnickeln frisch und getrocknet gerne gefressen wurden. Ich half meinem Vater dabei so gut ich konnte. Meine Aufgabe war es auch, von meinen Tanten, die etwa fünf Kilometer von uns entfernt wohnten, die Kartoffelschalen als Futter zu holen. Für meine kurzen Beine war das ein ganz schön weiter Weg.
Читать дальше