Für mich ist nichts in Ordnung .
„Es wäre ein Anfang“, antworte ich und ziehe die Sitzgelegenheit in Richtung Tür, um einen schnellen Abgang hinzulegen, sollte Elvis sich in ein Arschloch verwandeln. Er nimmt meinen Argwohn zur Kenntnis, sagt aber nichts dazu.
„Möchtest du was trinken?“
Die Frage gefällt mir schon eher und ich hoffe, er hat etwas mit ein paar Umdrehungen anzubieten.
„Unbedingt.“
Mit einem zufriedenen Nicken greift er ins Regal und reicht mir ein Glas, aber als er eine Wasserflasche öffnet, schüttle ich enttäuscht den Kopf.
„Ich bin nicht von den Toten auferstanden, um Wasser zu trinken.“
Es braucht seine Zeit, bis Elvis meine Antwort als Scherz versteht und an seinem Gesicht erkenne ich, dass es ihm schwerfällt, sich zwischen Lachen und einer Predigt zu entscheiden. Er wählt ein mildes Lächeln.
„Als dein Arzt muss ich dir dringend von Alkohol abraten.“ Er wird viel zu schnell wieder ernst und öffnet eine andere Schranktür. „Aber als ein Überlebender empfehle ich Scotch.“
Ich werfe einen kurzen Blick in den Schrank und bin sprachlos. Elvis ist offensichtlich ein Sammler, ein Liebhaber edler Tropfen. Tja, Julie, das nenne ich mal einen Glückstreffer.
„Du bist ein echt merkwürdiger Arzt“, antworte ich und nehme das Glas Scotch, obwohl ich das Zeug nicht ausstehen kann. Aber ein Geschenk lehnt man nicht ab, erst recht nicht in solchen Zeiten.
„Tja, und du bist eine verdammt merkwürdige Patientin“, schließt Elvis unser Gespräch.
Seltsamerweise finde ich ihn sympathisch.
Ich lasse mich aber nicht von Alkohol oder witzigen Ärzten bezirzen und halte lieber an dem fest, was wirklich wichtig ist. Und das ist und bleibt mein Bruder. Nachdem ich den Scotch in einem Zug gekippt habe, behalte ich das Glas in der Hand, um es als Waffe benutzen zu können, sollte das Gespräch eine dunkle Wendung nehmen. Es hat einen schweren Boden und ist perfekt geeignet, um Elvis zur Not ein paar Beulen zu verpassen.
„Also“, fange ich an und unterdrücke ein Husten. Auch Elvis leert sein Glas und stellt es mit einem dumpfen Geräusch auf dem Schreibtisch ab. „Wo ist mein Bruder? Wenn ich hier bin, muss er in der Nähe sein und bevor ich auch nur eine Frage beantworte, will ich ihn sehen.“
Elvis’ Augen glänzen hinter seiner Brille. Er sieht wie ein Lehrer aus, der sich auf eine Klausur freut.
„Das verstehe ich sehr gut, Julie, und ich würde dich gerne zu deinem Bruder bringen. Es gibt allerdings Umstände, die das nicht zulassen. Du musst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass er in guten Händen ist.“
Ich lache, obwohl ich sehr, sehr angepisst bin. Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte. Überhaupt nicht. Wenn er glaubt, dass derart gekünsteltes Gerede mich zufriedenstellt, wird er bald eine andere Seite von mir kennenlernen.
„Ich glaube dir gar nichts, Elvis, und letztendlich ist es egal, ob du mich zu ihm bringst oder nicht. Er wird mich finden. Oder ich ihn. So war das bis jetzt immer. Und dann wird es richtig hässlich. Das kann ich dir versichern.“
Meine Worte verfehlen nicht ihre Wirkung. Elvis lehnt sich in seinem Stuhl zurück und denkt nach, bevor er mir antwortet.
„Es tut mir leid“, sagt er. „Ich fürchte, ich habe mich nicht deutlich ausgedrückt. Was ich sagen will, ist, dass dein Bruder eine spezielle Überwachung benötigt.“
Mit anderen Worten was?! Er ist gefährlich? Er ist krank? Was will er mir damit sagen?
„Geht es auch genauer?“, frage ich. Mein Magen krampft sich zusammen. Wenn er nicht bald mit der Wahrheit rausrückt, werde ich die Fassung verlieren.
Und dann trifft mich die Erkenntnis.
Er weiß es. Nein, er hat es gesehen .
Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen? Elvis hat mich untersucht. Er hat den Biss an meinem Arm entdeckt, das Einschussloch, das ich eigentlich unmöglich überleben konnte. Himmel, er hat Jules gecheckt und nun sind wir die Starpatienten, die man nicht einfach so herumspazieren lässt. In ihren Augen benötigen wir tatsächlich eine spezielle Behandlung, aber wie die aussieht, will ich gar nicht erst herausfinden.
„Das wird mal wieder anstrengend“, denke ich voller Angst und mit einem Kribbeln im Nacken. Mein Mund wird trocken, wenn ich mir vorstelle, was sie mit Jules angestellt haben könnten.
„Nimm deinen Bruder und geh mit ihm nach Hause“, höre ich Bobby in meinen Gedanken.
In Ordnung, flüstere ich stumm. Ich werde ihn finden. Ich werde sie alle finden und dann hauen wir ab.
„Okay“, sage ich laut. „Reden wir.“
Ich fühle mich besiegt, geradezu machtlos. Im Vergleich hierzu ist ein Kampf gegen einen Zombie ein Kinderspiel. Da hatte ich bisher alles unter Kontrolle und der Vorteil ist ganz eindeutig, dass ein Untoter sich keine Gedanken macht. Er frisst, und dann wirst du ein Teil seiner Familie. Ende - aus. Ein Zombie arbeitet mit seiner Art zusammen, denn alle verfolgen dasselbe Ziel. Menschen dagegen sind gefährlich und unberechenbar. Sie lächeln nett und reichen dir ihre Hand, aber wenig später spürst du ein Messer zwischen den Rippen.
Ich hasse Menschen.
Elvis nickt und schenkt sich ein weiteres Glas ein. Er kramt in seiner Schreibtischschublade, reicht mir einen Schokoladenriegel und bietet gleichzeitig Alkohol an. Ich lehne beides ab.
„Julie, ich bin nicht dein Feind“, erklärt er. „Ich möchte dir helfen und herausfinden, was passiert ist.“
„Ah, natürlich“, antworte ich mit gespielter Ruhe. „Dann wollen wir beide wohl dasselbe.“
„So ist es.“ Als wären meine Worte der Startschuss, zieht er aus einer anderen Schublade eine braune Akte. Die Beschriftung kann ich nicht lesen. Er leckt Daumen und Zeigefinger an und blättert zu einem Bericht, dessen Seiten noch leer sind. Mit gefalteten Händen beugt er sich über die Akte, um sein Verhör zu starten.
„Kürzen wir es ab“, schlage ich nervös vor. „Welche Lücken kann ich in deinem netten kleinen Büchlein füllen?“
„Nun ja“, sagt Elvis und zückt einen Kugelschreiber aus seiner Kitteltasche. „Von … wie heißt sie noch gleich? Ah, ja, Judith. Genau, wie konnte ich ihren Namen nur vergessen? An das Schlangentattoo habe ich mich sofort erinnert, wirklich beeindruckend. Wie auch immer“, er lächelt entschuldigend und redet weiter: „Von ihr habe ich von dem Vorfall im Motel erfahren. Ihre Version gleicht der von eurem Freund Hank. Ich gehe davon aus, dass man sich so eine Geschichte nicht ausdenken kann. Übel, wirklich übel. Von ihr weiß ich auch, woher ihre Verletzungen stammen und dass der Verursacher tot ist. Für den Fall, dass es dich interessiert: Die beiden sind stabil.“
Ich bin interessiert und schäme mich gleichzeitig, weil Jules meine Gedanken beherrscht und ich meinen Freunden bisher kaum Beachtung geschenkt habe. Dabei sind sie ebenso wichtig.
„Und Olivia?“
„Ist sie das kleine Mädchen?“, fragt Elvis. Ich nicke, obwohl von klein nicht die Rede sein kann. Sie ist elf Jahre alt und hat mehr Mut bewiesen als manch Erwachsener. „Sie befindet sich derzeit auf unserer Kinderstation und lässt niemanden an sich heran. Der Vorfall hat sie traumatisiert, aber soweit ich es als Arzt beurteilen kann, geht es ihr gut.“
Traumatisiert, wiederhole ich in Gedanken. Ja, sicher. Olivia ist ein schlaues Mädchen. Sie wartet ab und plant, bis sich ein günstiger Moment ergibt. So stelle ich es mir zumindest vor. Sie hat gelernt, nicht jedem zu vertrauen, auch Ärzten nicht.
Halte dich gefälligst selbst daran, ermahne ich mich.
Elvis redet weiter, aber es fällt mir immer schwerer, ihm zu folgen. Seine Stimme rückt in den Hintergrund, bis sich nur noch sein Mund bewegt. In meinen Ohren rauscht es, in meinem Kopf grollt es und als ein kühler Windhauch mich berührt, wende ich mich zur Tür, in der Erwartung, dort jemanden stehen zu sehen. Aber da ist nichts, obwohl ich eine Anwesenheit wahrnehme.
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