Charlie Meyer - Leben - Erben - Sterben

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Delia A. Pusch trauert mit Andacht ihrem alten Leben hinterher. Ihr Lebensgefährte hat sie wegen einer anderen verlassen, ihr Sohn ist von zu Hause ausgerissen, und ihre neue Fallmanagerin im Jobcenter stellt sich als eine verhasste Klassenkameradin aus der Schulzeit heraus.
Um ihre Haushaltskasse aufzubessern, setzt Delia eine Anzeige in die Zeitung: Nehme Aufträge aller Art an und gerät in einen mörderischen Strudel, der sie weit über ihre Grenzen bringt.
Zur gleichen Zeit zwingt das Jobcenter Delia, einen 400-Euro-Job bei einem Bestatter anzunehmen, der seiner Arbeit mit verblüffender Kreativität nachgeht.
Für Delia beginnt ein mörderischer Balanceakt zwischen ihrem Job, einer nimmermüden Fallmanagerin im Jobcenter, der Jagd nach dem abtrünnigen Sohn, einer neuen Beziehung und dem verzweifelten Bemühen, einem Mörder nicht in die Quere zu kommen.

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„Ein wenig?“, hakte ich nun doch spontan nach.

Sie überging den Einwurf und entließ mich mit einer Handbewegung, die eines Shakespeare-Mimen würdig gewesen wäre. „Churchill wird Ihnen nicht all zu lange lästig werden, glauben Sie mir. Und nun nehmen Sie den Hund und gehen Sie. In diesem Leben werden wir uns nicht wiedersehen.“

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, doch das Perverse an der Perversion ist, wie leicht man sie akzeptiert, und so beobachtete ich einfach Bruno, wie er sich abmühte, einen ausgestopften Hund namens Churchill in einen Kopfkissenbezug zu stecken. Dann sagte ich wohlerzogen Auf Wiedersehen , registrierte ihr stummes Kopfschütteln und folgte Bruno zur Tür. Ich nahm ihm das pralle Kopfkissen ab, und er zuckte zusammen, als ich es wie einen Kartoffelsack schulterte. Am Fuße der drei Stufen zum Vorgarten hörte ich ihn hinter mir noch etwas raunen: „Nehmen Sie sich in acht, und erzählen Sie niemandem von dem Hund. Hören Sie? Niemandem! Trauen Sie keinem.“

Die Dämmerung senkte sich bereits über das Wesertal, und meine Gänsehaut hielt mühelos bis zum Fahrrad durch. Etwas später blühte sie neu wieder auf, als ich den Berg hinunterbrauste auf meinem zweirädrigen Sportcoupé mit Pedalen, das schneller und schneller wurde, und mir meine defekten Bremsen einfielen. Der Rücktritt trat durch, und die Bremsbacken der Vorderbremse waren lange schon abgeschliffen. Einhändig, den Hund noch immer geschultert, fragte ich mich, wie ich vor der Hauptstraße unten zum Stillstand kommen sollte. Andernfalls, wenn ich wie ein Pfeil über das Ziel hinausschoss, lag die Chance einen LKW zu erwischen schätzungsweise bei eins zu eins. Zweihundert Meter weiter gabelte sich die Straße in die B1 und die B83, und keiner ihrer Anwohner beklagte ein zu geringes Verkehrsaufkommen.

Der Pathologe würde sich bestimmt über die seltsame Mischung aus frischem Menschenfleisch und den Bröseln einer steinharten, ein halbes Jahrhundert alten, zermalmten Hundehaut wundern.

2.

Ich hatte eine unruhige Nacht verbracht, was zum einen am roten Inhalt einer Flasche mit dem Aufdruck Shiraz Cabernet, South Eastern Australia lag und zum zweiten an den ungelösten Mysterien des Vortages. Ohne mich als moderne Sibylle ausgeben zu wollen, rumorten in meinem Innersten die widersprüchlichsten Ahnungen und sorgten für ein zerwühltes Bettlaken und ein schweißnasses Kopfkissen. Gegen halb vier, als die Vögel munter zu tirilieren begannen und sich die Dunkelheit lichtete, war ich über mein Bett gerollt und hatte dem Polski Owczarek Nizinny das gestickte Deckchen vom Hocker, der mir als Nachttisch diente, über den Kopf gehängt. Mir war gewesen, als starre mich Frankensteins Monster an. Am Abend zuvor hatten Churchill und ich ab einem bestimmten Glas Cabernet gemeinsam vor der Mattscheibe gehockt und uns einen hirnlosen Film namens Dead Man on Campus angesehen, in dem zwei durchgeknallte Studenten danach trachteten, andere durchgeknallte Studenten in den Selbstmord zu treiben. Der Plot gefiel weder ihm noch mir, daher hatten wir eine nette kleine Plauderei angefangen, von der mir allerdings nur noch ein einseitiges selbstmitleidiges Jammern durch die Erinnerung geisterte. Ich hätte vor dem Entkorken der Rotweinflasche etwas essen sollen. Wie Churchill mit seiner hängenden Zunge neben meinem Bett gelandet war, wusste ich nicht mehr, nur noch, dass er, mit dem Fingerknöchel beklopft, seltsam tönern klang und sich überhaupt nicht kuschelig, sondern hart und sperrig anfühlte, sobald man ihn umarmte.

Es beschämte mich sehr, wie tief eine einsame Frau sinken konnte.

Nach dem Aufstehen bestrafte ich mich mit einer kalten Dusche, Toast Hawaii und dem festen Vorsatz, meinen Filius aufzuspüren und ihm ein für alle Mal die Flausen auszutreiben. Er brauchte eine Wohnung und einen Schulabschluss - er brauchte ein geregeltes Leben unter mütterlichen Fittichen. Und eine Gebrauchsanweisung für seinen Verstand. In selbstkritischen Momenten quälte mich die Frage nach meinem ganz eigenen Beitrag zur Flucht des Jungen. Stimmten die Vorwürfe meines Ex, ich sei eine egomanische und machtbesessene Mutter und Lebensgefährtin gewesen, die niemanden in der Familie hochkommen ließ? Hatte ich allen beiden tatsächlich nur die Wahl gelassen, aus meinem Umfeld zu fliehen oder sich totzustellen wie der verdammte Hund? Eiko war am Morgen seines fünfzehnten Geburtstags auf das klapprige Fahrrad seines Vaters gestiegen, in der Plastiktüte auf dem Gepäckträger nicht mehr als ein paar Socken und eine Unterhose zum Wechseln, und in die Welt hinausgeradelt. Meiner Kontrolle entschwunden. Und alles nur, weil ich ihn mit einer kerzenbestückten Torte weckte und Happy Birthday sang, als er die Augen aufschlug. Er beklagte sich - über das frühe Wecken, das unbefugte Eindringen in seine Privatsphäre und meinen Gesang - und ich lachte ihn als Langweiler und Spielverderber aus und riet ihm, sich in der Wüste ein Iglu zu bauen, wenn er seine Ruhe haben wollte.

Wie sollte ich auch ahnen, dass er meinen Scherz aufgreifen und auf seine ganz eigene Art umsetzen würde.

Im Laufe der Jahre war entlang der Weser ein durchgehender Radwanderweg entstanden, der von Hannoversch-Münden bis runter zur Nordsee führte. Ein Teilstück davon war zu Eikos neuer Heimat geworden. Hameln lag etwa in der Mitte dieser Strecke und diente ihm als Versorgungsstützpunkt. Seit dem letzten Sommer pendelte er zwischen Holzminden und Minden unermüdlich hin und her. Mittlerweile besaß er ein Paar Satteltaschen und übernachtete auf Campingplätzen oder wo immer sich ein Eckchen für das Zweimannzelt fand, das er seinem Vater aus dem Keller stibitzt hatte. Schlösser waren für meinen Sohn von klein auf ebensowenig ein Problem gewesen wie das Knacken der E-Mail-Passwörter seiner Lehrer oder das nahezu perfekte vom Blatt spielen Carulli’scher und Carcassi’scher Gitarrenetüden. Falls sich Eiko irgendwann einmal entscheiden sollte, seinen IQ von 162 mit Verstand zu händeln - den ich ihm mittlerweile gern auch gewaltsam einbleuen würde - könnte der Welt ein neuer Nobelpreisträger entgegenwachsen, der erste Mensch auf dem Mars, ein begnadeter Dichter oder Paganini auf der Gitarre. Oder einfach nur der raffinierteste Hacker des Universums.

Stattdessen strampelte er Tag für Tag mit dem Wind und gegen den Wind den Weserradweg entlang. Flussaufwärts von Holzminden nach Minden, dann Kehrtwendung um hundertachtzig Grad und flussabwärts zurück zum Ausgangspunkt. In schwachen Momenten sah ich ihn direkt in die Psychiatrie des Landeskrankenhauses strampeln. Am Anfang hatte ich in meiner Wut und Hilflosigkeit erst das Jugendamt und dann sogar die Polizei auf ihn gehetzt, aber wie ein Aal schlängelte er sich zwischen all den Händen hindurch, die ihn aufzuhalten suchten. Immerhin konnte ich mich damit trösten, nicht vollends aus seinem Leben verbannt zu sein. Wenn er etwas brauchte, brach er bei mir ein.

Dem Himmel sei Dank lag ihm offenbar nichts daran, mich oder seinen Vater durch einen langsamen Drogenselbstmord zu bestrafen. Er nahm weder Crack noch Heroin noch experimentierte er mit Fliegenpilzen oder Purpurweiden herum. Er las auch nicht Huxley oder Carlos Castaneda. Er holte sich seine psychedelischen Kicks schlicht und ergreifend beim Radfahren.

Seine einzige Verbindung zur realen Welt bildete eine kleine rechteckige Plastikkarte, mit der er Schlösser knackte und Geld aus dem Automaten holte. Sein Vater überwies ihm Unterhalt auf ein Konto, und ich stockte auf, soweit ich konnte. Von dem Geld auf dem Konto zahlte er seine Übernachtungen, aber für den sonstigen Bedarf zog es Eiko vor einzubrechen, unsere Kühl- und Kleiderschränke zu plündern, Seife vom Wannenrand und die Käsecracker direkt vom Teller zu klauen. Er lebte sparsam.

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