Charlie Meyer - Leben - Erben - Sterben

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Delia A. Pusch trauert mit Andacht ihrem alten Leben hinterher. Ihr Lebensgefährte hat sie wegen einer anderen verlassen, ihr Sohn ist von zu Hause ausgerissen, und ihre neue Fallmanagerin im Jobcenter stellt sich als eine verhasste Klassenkameradin aus der Schulzeit heraus.
Um ihre Haushaltskasse aufzubessern, setzt Delia eine Anzeige in die Zeitung: Nehme Aufträge aller Art an und gerät in einen mörderischen Strudel, der sie weit über ihre Grenzen bringt.
Zur gleichen Zeit zwingt das Jobcenter Delia, einen 400-Euro-Job bei einem Bestatter anzunehmen, der seiner Arbeit mit verblüffender Kreativität nachgeht.
Für Delia beginnt ein mörderischer Balanceakt zwischen ihrem Job, einer nimmermüden Fallmanagerin im Jobcenter, der Jagd nach dem abtrünnigen Sohn, einer neuen Beziehung und dem verzweifelten Bemühen, einem Mörder nicht in die Quere zu kommen.

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Der Campingplatz schloss unmittelbar ans Fährhaus an, durch den Weserradweg in zwei ungleiche Hälften geteilt. Auf dem Hauptplatz links standen die Wohnwagen der Dauercamper, rechterhand gab es heckengesäumte Nischen für das durchziehende Volk. Ich steckte meine Nase um jede Hecke einzeln, ich blickte zwischen und hinter die Wohnwagen und war verzweifelt genug, selbst unter sie zu spähen. Eiko fand ich nicht. Er war weg. Mit hängenden Armen stand ich mitten auf dem Radweg, während Hitze und Enttäuschung meine Knochen verflüssigten. Dank Uwes Fernrohr, dank Eikos siebtem Sinn, dank meiner Sturheit, ihn wieder und wieder jagen zu müssen, wahrscheinlich jedoch dank einer Kombination aus all dem, war mir mein Sohn erneut durch die Finger geflutscht und längst über alle Berge. Vielleicht die Allee hoch nach Frenke, ein Stück die Landstraße hinunter und dann einen der Stichwege zurück zur Weser, um mich elegant zu umschiffen. Vielleicht auch einfach in Gegenrichtung auf und davon. Doch es spielte eigentlich keine Rolle, wie er mich ausgetrickst hatte. Wieder einmal war der Versuch meiner Annäherung mit Flucht bestraft worden, und mittlerweile fühlte ich mich weniger wütend als gedemütigt.

Ich versuchte mich wie die Bezaubernde Jeannie nach Hause zu blinzeln, doch als selbst das misslang, schleppte ich mich niedergeschlagen in den Biergarten - trotz meines Widerwillens gegen die fröhlichen Zecher. Ich parkte mein Fahrrad neben dem Pulk der übrigen Fahrräder, die ausnahmslos unter überladenen Gepäckträgern ächzten. Ein Schild mit Pfeil, auf dem Selbstbedienung stand, lotste mich in die Gaststätte und dort an den langen Tresen. Eine ältere Frau blickte mir erwartungsvoll entgegen.

„Hallo. Ich hätte gern ein Radler. Ein großes Radler.“ Ich deutete mit den Händen die Größe an. Obgleich ich während der Fahrt einen halben Liter Wasser getrunken hatte, war meine Kehle vom Nachdurst wie ausgetrocknet. „Außerdem würde ich Sie gern was fragen. Ich weiß nicht, ob Sie das waren, mit der ich heute Morgen telefoniert habe, aber ich suche den Jungen mit den Rastalocken.“

Sie lachte. „Eiko? Sie sind seine Mutter, nicht? Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Ihr Sohn sitzt draußen im Garten. Haben Sie ihn denn nicht gesehen?“

„Er sitzt draußen? Eiko? Wo denn?“

Sie verrenkte sich den Hals, um aus einem der Fenster zu spähen, und ich tat es ihr gleich. Sie deutete auf einen abgelegenen Tisch am Zaun zur Ponyweide. Ein halb ausgetrunkenes Spezi hielt einsam Wacht. Der Gesichtsausdruck der Wirtin änderte sich. Für das Mitleid in ihrem Blick hätte ich ihr gern gegen das Schienbein getreten, doch sie und mich trennten der Ausschank. „Tja, tut mir leid, eben war er noch da.“

Ich musterte den Tisch, das Spezi und den leeren Stuhl, auf dem Eiko gesessen haben sollte, ich musterte die dicke Kastanie, hinter der der Stuhl stand. Die Erkenntnis traf mich wie ein Vorschlaghammer, und ein, zwei Züge lang bekam ich nur mit offenem Mund Luft. Über eine Stunde hatte ich stramm in die Pedalen getreten und alles nur, um in meinem Ärger über die fröhlichen Zecher, durch das verächtliche Abwenden vom Trubel, meinen Sohn einfach zu übersehen. Er hingegen hatte mich natürlich auf der Stelle erblickt und Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

„Sein Spezi ist noch da“, bemerkte die Wirtin, im vergeblichen Bemühen, dieser Versagerin von Mutter etwas Tröstliches zu bieten.

„Ja, das sehe ich, aber es wird mir wohl kaum antworten, wenn ich es frage, wo sein Besitzer abgeblieben ist. Irgendwelche Vorschläge?“ Eine rein rhetorische Frage, auf die ich nicht ernsthaft eine Antwort erwartete.

Die Wirtin zuckte die Achseln. „Richtung Hameln auf dem Radweg. Oder hoch ins nächste Dorf. Oder er setzt mit der Fähre über.“

„Die Fähre!“ Natürlich! Vor meinen Augen mit der Fähre überzusetzen, während die genasführte Mutter am Ufer vor Wut brüllte, würde Eiko gefallen. Es war sein Stil.

Ohne mich, du Satansbraten, dachte ich erbost, stürmte jedoch im selben Augenblick auch schon los und sprintete zum Anleger hinunter.

Sollte ich ihn wider Erwarten doch noch erwischen, würde ich einfach das tun, was ich in seiner Kindheit offenbar versäumt hatte. Ihn mir übers Knie legen und nach Strich und Faden vermöbeln.

Die Fähre jedoch tuckerte bereits das gegenüberliegende Ufer an. Mitten drauf stand eine einsame Gestalt. Sie hielt ein Fahrrad mit schwarzen Packtaschen am Lenker, hatte rote Rastalocken und drehte mir den Rücken zu.

„Eiko Pusch! Auf der Stelle kommst du ...“ Ich brüllte, wie ich noch nie gebrüllt hatte, und meine Stimme überschlug sich noch vor dem letzten Wort. Es gab kein zurück mehr.

Es war der Fährmann, der reagierte. Er schoss alarmiert aus seinem Kabäuschen, sagte etwas zu dem Jungen und deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich. Ich sah Eikos verfilzte Rastalocken fliegen, als mein Sohn vehement den Kopf schüttelte, dann gab ich auf. Dem Bauern auf seiner Bank war der Bissen im Hals stecken geblieben. Er starrte mich beunruhigt an. Ich schleppte mich zum Fährhaus zurück, holte mir das Radler vom Tresen, ohne der Wirtin in die Augen zu blicken, und versteckte mich ganz hinten im Biergarten. Weit entfernt von den glücklichen Menschen. Als die Fähre am jenseitigen Ufer anlegte, hob ich das Glas und prostete meinem Sohn zu, der sich in den Sattel schwang und in Richtung AKW davonradelte. In fünf Tagen, am kommenden Sonntag, wurde er sechzehn Jahre alt, und gleichzeitig jährte sich seine Flucht.

„Du kannst mich mal.“ Dann verschwamm mir die Sicht.

3.

Diesmal wachte ich nüchtern auf, allerdings mit dem beklemmenden Gefühl drohenden Unheils. Durch ein umfangreiches Waschprogramm und ein Müsli mit frisch geschnippeltem Fruchtsalat zögerte ich meinen Aufbruch so weit wie möglich raus, doch schließlich, so gegen halb elf, sah ich den Tatsachen ins finstere Auge und stiefelte los. Nach Fahrradfahren war mir heute nicht, ich trödelte lieber und versuchte im Jobcenter nicht anzukommen.

Es war nur ein weiterer mieser Tag in Folge.

Die Schlange an der Anmeldung tröpfelte nur widerwillig ab, doch dann stand auch ich auf einmal vor dem Tresen und holte mir durchs Plexiglas die Erlaubnis, eine Etage höher erneut zu warten. Ich ließ mich auf einem am Boden festgeschraubten Plastikstuhl nieder. Hier einfach nur herumzusitzen, in meinem eigenen Elend und dem Elend der anderen ringsumher, deprimierte mich zutiefst. Böse Erinnerungen frischten sich auf, was mich nicht weiter verwunderte. Das Jobcenter und die politischen Hintermänner, die ab und an aufmunternd an den Fäden derjenigen zupften, die hier ihre Machtgelüste austoben durften, trugen schließlich die Schuld an meinem ganzen Schlamassel.

Schon bevor die Hartz IV-Gesetze in Kraft traten, gingen dank ihrer etliche Ehen, Partnerschaften und Wohngemeinschaften auseinander, und es kam im ganzen Land zu einem hektischen Getrenne und einem Ansturm auf Singlewohnungen, die der gesetzlichen Norm entsprachen. Nicht mehr als zwei Zimmer, nicht größer als maximal fünfzig Quadratmeter. Das Problem war die radikale Streichung staatlicher Unterstützung für arbeitslose Hilfeempfänger, wenn im selben Haushalt ein Verdienender über einer bestimmten Gehaltsgrenze lebte. Das galt für Ehemänner, Partner und alle, die sich aus einem gemeinsamen Kühlschrank ernährten. Also auch für Uwe und mich, die wir nie geheiratet hatten. Natürlich gab es Schlupflöcher und eifrige Advokaten, die sich für uns nur allzu gern vor die Schranken eines Gerichtes gestürzt hätten, aber wir dachten, den Staat auf billigere Weise austricksen zu können.

Als sich Eiko vor knapp siebzehn Jahren, der Pille zum Trotz, in meinem Uterus einnistete, suchten wir uns eine gemeinsame Wohnung, ganz kuschelig oben unter der Schräge, mit Blick auf die Hügel des Wesergebirges, und zogen gemeinsam ein. Uwe war eigentlich nur auf einen Sprung aus Hamburg heruntergekommen, um gemeinsam mit seinen Eltern sein BWL-Examen zu feiern. Ich wohnte noch auf dem elterlichen Bauernhof in Selxen, einem kleinen Dorf wenige Kilometer von Hameln entfernt, und gammelte nach dem Abitur und einer Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau antriebslos in der Stadt herum. Tagsüber in Eiscafés und abends in den Kneipen. Schon damals haderte ich mit den Widrigkeiten meiner Existenz. Ich wollte in keinem Reisebüro versauern, ich wollte keine Kühe melken, ich wollte gammeln und leiden. In der Alten Post in der Hummenstraße lernte ich während einer Hillbilly-Nacht Uwe kennen. Wir tauschten erst allgemeine Informationen, dann unsere Körperflüssigkeiten aus, und Eiko baute sich gegen alle Regeln der Medizin sein Nest.

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