Um mich nach einer Stelle im „Westen“ umzusehen, ging ich damals einfach zur Gemeindeverwaltung, um eine Ausreisegenehmigung aus der DDR in die BRD zu bekommen, was zu jener Zeit kein Problem darstellte.
Heimat ade
Meine Eltern und Geschwister waren damals sehr traurig, als ich zusammen mit meinem Freund Konrad Drechsler kurz entschlossen in die BRD aufbrach, Ziel sollte Dachau in Oberbayern sein, hier wohnte ein Onkel von besagtem Konrad.
Unsere Zugreise ging dann über Cranzahl, Annaberg, Chemnitz, Plauen, Hof und München nach Dachau, wo wir von besagtem Onkel abgeholt wurden.
Zur damaligen Zeit war so eine Fahrt eine Reise in eine andere Welt, eine Welt, wie wir sie beide noch nie gesehen hatten. Schon am Grenzübergang in Hof wurden wir fröhlich begrüßt und auf bayrisch zur Weiterfahrt verabschiedet.
Es war wie in einem Film, und unsere Gedanken beschäftigten sich zielgerichtet auf die Zukunft, auf das, was uns erwartete. Was es war, wussten wir nicht. Aber es würde schon klappen, zurück ins Erzgebirge konnten wir ja immer noch, die Aufenthaltsgenehmigung war zwei Monate gültig.
Im Hause des Onkels meines Freundes wurden wir sehr gut aufgenommen und versorgt, unser Anliegen, gerne hier bleiben und arbeiten zu wollen, war nichts Ungewöhnliches für ihn, und er versprach zu helfen.
Zur damaligen Zeit war es keine Seltenheit, dass Ost-Bürger zu West-Bürgern auf Zeit wurden, meine persönliche Sorge aber blieb, ob es mit der Arbeit auch klappen und ich im gelernten Beruf würde arbeiten können. Meine Sorgen waren jedoch völlig unbegründet, denn schon in der Frühe des nächsten Tages gingen wir mit „Onkel Werner“ zum Arbeitsamt nach Dachau, um die nötigen Formalitäten für eine Arbeitsaufnahme im Westen zu erledigen. Guten Glaubens kehrten wir nachmittags wieder heim.
Das folgende Wochenende sind wir im Hause der Familie Werner Drechsler geblieben. Hier wurden wir sehr üppig versorgt. Die Gespräche drehten sich auch um die Stadt Dachau, wo sich während der NS-Zeit im bekannten KZ schreckliche Vorkommnisse abgespielt hatten. Die Einwohner von Dachau waren noch immer stark erschüttert von der Vergangenheit, obwohl wir jetzt schon 1956 schrieben und der Krieg seit 11 Jahren beendet war. Ich konnte mit meinen 16 Jahren die Trauer nachvollziehen, wenn die Sprache auf die Gräueltaten der SS kam. Am Sonntag besichtigten wir den damals gerade neu angelegten Friedhof für die KZ-Opfer.
In vielen Situationen ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken um einen Arbeitsplatz hier im Westen. Ich stand nun mal alleine hier in der Fremde, wünschte, mich weiterbilden zu können, erfolgreich die erhoffte Arbeit zu meistern und vielleicht auch meine Eltern und Geschwister etwas zu unterstützen, denn in der DDR gab es, das wissen heute fast alle, zur damaligen Zeit sehr wenig und dann noch alles auf zugeteilten Lebensmittelkarten. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie man damals Millionen von Deutschen in dem sowjetischen Herrschaftsgebiet behandelt hat. Alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse mussten, bis auf kleine Mengen zum eigenen Verbrauch, an die russische Besatzung und in die Sowjetunion abgegeben werden.
Gerade deshalb gingen mir bei meinem damaligen ersten Gehversuch in der BRD der Mund und die Augen gar nicht mehr zu, ich konnte schwer begreifen, in welchem Wohlstand die Menschen 1956 in Westdeutschland schon wieder lebten.
Es wird ernst
Ein paar Tage plänkelten so dahin, dann kam die Nachricht, dass ich eine Arbeitsstelle als Fleischer in Puchheim, einem Ort bei München, annehmen könne, für Unterkunft und Verpflegung sei gesorgt.
– Kirche in Puchheim –
Die Freude, eine Arbeitsstelle gefunden zu haben, war unbeschreiblich, aber im Hinterkopf war mir wohl bewusst, dass damit ein ganz neuer Abschnitt meines Lebens beginnen würde, ganz ohne Eltern und Geschwister, Verwandte und Bekannte. Ich musste mein Leben jetzt wirklich in die eigene Hand nehmen und versuchen, alles alleine zu meistern.
Mit den besten Wünschen wurde ich von Konrad und seinen Eltern zwei Tage später verabschiedet, mit einigen Sachen und einer Fahrkarte nach Puchheim in der Hand. Mit einem ganz normalen Personenzug fuhr ich von Dachau über München-Hauptbahnhof nach Puchheim in Oberbayern.
Dort am Bahnhof angekommen, fragte ich nach der Adresse der Metzgerei und stellte fest, dass ich fast vor der Tür meiner künftigen Arbeitsstelle stand. Es war die damalige Bahnhofsgaststätte mit eigener Metzgerei. Ich war sehr erfreut über die herzliche Aufnahme nach meiner Ankunft, denn ich wurde mit meinen 16 ½ Jahren dort aufgenommen, als wenn ich zur Familie gehören würde. Mir wurde sofort mein Zimmer zugewiesen, wo ich zusammen mit einem älteren Gesellen wohnen konnte.
Dieses ist die Bahnhofsgaststätte in Puchheim, zu der auch eine Metzgerei gehörte. Allerdings war das Gebäude in den späten 1950er Jahren schon restauriert. Das Zimmer, in dem ich damals wohnte (mit Blick auf den kleinen Bahnhof), ist aber gut wieder zu erkennen.
Alles, was anschließend auf mich zukam, empfand ich als sehr angenehm und zuvorkommend, ich wurde meinem Metzgermeister vorgestellt. Alle Familienmitglieder und das Personal saßen zusammen am Tisch in der großen Küche der Bahnhofsgaststätte. Ich meine mich erinnern zu können, dass es eine Art bayerische Schlachtschüssel mit Sauerkraut, Leberknödeln, Leber und Blutwurst gab, dazu schmackhaftes Weißbrot und einen halben Liter dunkles Starkbier. Es war schon am ersten Tag ein großes Erlebnis. An diesem ersten Tag brauchte ich noch nicht gleich zu arbeiten, obwohl ich es gerne gemacht hätte, denn neugierig war ich schon.
Am nächsten morgen wurde ich um Punkt 6 Uhr geweckt und bin mit dem Gesellen um 6:30 Uhr in das saubere Schlachthaus gegangen. Unter Anleitung vom 1. Gesellen wurden mir Auslösearbeiten aufgetragen, die im Grunde nichts Außergewöhnliches für mich waren, aber jede Gegend hat eben doch so ihre Besonderheiten, die mir aber immer freundlich erklärt wurden. Vom Schlachten selber bis hin zur Verwurstung gab es Unterschiede. Ich empfand gerade diese Unterschiede als Herausforderung dazuzulernen, um mein gesamtes Grundwissen zu vervollständigen.
Vom heutigen Wohlstand waren wir noch weit entfernt, wie dieses Bild aus Pucheim zeigt
Es machte mir deshalb nichts aus, immer wieder vom Gesellen oder Meister neue Arbeitsweisen vermittelt zu bekommen. Von den neuen Herausforderungen habe ich mich mit meinem jungen Willen nicht unterkriegen lassen, auch die Bewältigung schwerer Tage von 16 und mehr Arbeitsstunden im Schlachthaus haben mich nicht entmutigen können. Sie wurden ohnehin ausgeglichen von sehr schönen Tagen, an denen ich mit Familienmitgliedern meines Arbeitgebers zusammen sein durfte, bei gutem Essen und Trinken.
Nach einigen Wochen gab es dann auch den ersten Lohn: 100 DM für einen Monat, die freie Station mit Essen, Trinken und Unterkunft musste man ja auch berücksichtigen. Mit diesem Geld konnte man sich zu der Zeit schon mal ein paar Sachen kaufen. Das, was ich nicht vergessen habe, war der Inhalt für ein Päckchen mit Kakao, Schmalz und Schokolade für meine Familie im Erzgebirge, denn ich wusste ja, dass es diese Naturalien dort nicht zu kaufen gab.
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