»Ich stimme allen deinen Schlussfolgerungen zu, obwohl ich nicht glaube, dass wir etwas in Barans Sachen übersehen haben.«
»Es trifft sich gut, dass wir noch in seiner Wohnung sind. Unsere erste Untersuchung war eher oberflächlich, da wir uns einen Überblick verschaffen wollten. Jetzt wissen wir, wonach wir suchen: Aufzeichnungen, vielleicht ein Tagebuch oder einfach Bücher. Auf jeden Fall etwas mit einem Bezug zu Raben. Darum sollten wir nochmal damit anfangen. Jetzt!«
Erschrocken springt Oskar hoch. Das letzte Wort hat Morgana derart scharf hervorgestoßen, dass es fast wie ein Peitschenknall klang.
»Sie mag atemberaubend schön und übermenschlich klug sein«, denkt der Nachfahre der Dubharan. »Ich möchte ihren Reizen aber lieber nicht erliegen. Und zur Feindin haben sollte ich sie schon gar nicht. Es ist besser, ich tue was sie sagt. Jedenfalls so lange, wie es in meine Pläne passt.«
Laut entgegnet er nur:
»Ist ja schon gut. Ich beginne im Keller. Kommst du mit?«
»Was meinst du wohl? – Natürlich! Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.« In Gedanken fügt sie hinzu: »Ob ich dir trauen kann, weiß ich nicht. Ich bleibe lieber in deiner Nähe, damit du nichts vor mir verheimlichen kannst!«
Beide verlassen den Raum, um mit der Suche zu beginnen.
Am frühen Morgen, es dämmert noch nicht einmal, kehren der Junge und der Kolkrabe von Serengard wieder heim. Raban stellt seinen Haselstab, den er diesmal ungenutzt mitgenommen hatte, in eine Zimmerecke. Bevor er nach unten gehen will, verlieren sich seine Gedanken in den Ereignissen vom letzten Sommer.
Vor seinem geistigen Auge sieht er, wie er sich vergeblich bemühte, den Stab abzubrechen, bevor es ihm gelang, nachdem er sein Messer zu Hilfe genommen hatte. Raban fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichten, genau wie damals, als er dort auf dem Gelände zwischen den Ruinen des Klosters eine lauernde Gefahr spürte. Er meint sogar, erneut das Kribbeln im Nacken zu fühlen, während er gedanklich erneut auf den eingefallenen Turm steigt. Sein suchender Blick findet nochmals den Raben, der bewusstlos auf dem Boden liegt, während ein Wolf auf dem Weg dorthin ist. Raban stürmt in seinen Gedanken wieder laut rufend auf den Wolf zu.
Er ist derart in Erinnerungen versunken, dass er zuerst nicht registriert, wie eine geistige Verbindung zu ihm hergestellt werden soll:
»… was ist denn los? Ich brauche dich. RABAN, antworte!«
Im ersten Moment grübelt er darüber nach, was das jetzt in seiner Erinnerung zu suchen hat. Dann ist er hellwach.
»Entschuldige, Röiven. Was ist los?«
»Du musst sofort zu mir kommen. Ich bin vermutlich verrückt, aber hilf mir!«
»Bleib ruhig, mein Freund. Ich komme.« Damit ergreift der Junge den Haselstab und die Luft flirrt.
Die Dämmerung lichtet sich und ein sonniger Tag kündigt sich an. Raban steht unter der Buche, in der Zoe und Röiven ihr Nest errichtet haben. Er ist automatisch davon ausgegangen, dass der Rabe ihn hierher gerufen hat. Doch das Nest und die beiden Vögel sind nirgends zu erblicken. Hat der Junge einen Fehler beim magischen Sprung gemacht? Laut ruft er nach seinem Freund:
»Röiven, wo bist du?«, als auch schon ein schwarzer Schatten auf ihn herunterfällt.
Im ersten Moment fährt er vor Schreck zusammen. Sein Arm schnellt mit dem Stecken nach oben, um einen möglichen Angriff abzuwehren. Wie selbstverständlich murmelt er dabei »Sgiath!«, und errichtet eine Schutzglocke um sich.
»Endlich!«, knarzt die vertraute Stimme, während der Kolkrabe auf seinem Arm zu landen versucht. Der Schutz um den Jungen leuchtet bereits auf, als der Vogel ihn berührt. Sofort erklingt nun:
»Inhibeo«, und Röiven vermag auf dem Arm seines Freundes zu landen.
»Was ist denn los?«, will der Junge erstaunt wissen. »Bin ich hier nicht an der Stelle, wo ihr euer Nest gebaut habt? Ich sehe es gar nicht.«
»Das ist es ja, was mich verwirrt«, ist die unerwartete Antwort. »Ich zweifel bereits an meinem Verstand. Ich kann Zoe und das Nest nirgends finden. Erst dachte ich, es liegt an dem Zwielicht der Dämmerung. Da du aber auch hierher gekommen bist und das Nest vermisst, muss der Ort richtig sein. Aber, wo sind dann Zoe und unsere Kinder?« Laut erklingt sein fordernder Ruf: »ZOE! Zeige oder melde dich! Wo bist du, Zoe?«
Raban grübelt, welche Möglichkeiten es für das Verschwinden geben könnte.
»Kann Zoe ein weiteres Nest an anderer Stelle gebaut haben? Vielleicht, um irgendwelchen Feinden zu entgehen?«
»Das ist möglich«, bestätigt Röiven frohlockend. »Wir Fithich errichten manchmal mehrere Nester, um Ausweichmöglichkeiten zu haben. – Das kann es aber doch nicht sein. Dafür war die Zeit für nur einen Fithich zu kurz und wie hätte Zoe die Eier dorthin schaffen sollen. Ganz davon abgesehen, dass sie anschließend sicher nicht das bisherige Nest entfernt hätte. Wozu sollte sie das auch machen?« Verzweifelt lässt der schwarze Vogel seinen Kopf sinken. »Ihr ist etwas zugestoßen!«, krächzt er verzagt. »Sie wurde vermutlich getötet, ERMORDET!«
Raban schüttelt zweifelnd den Kopf. Eine Hand streicht beruhigend über den Rücken seines Freundes.
»Nein. Das kann ich nicht glauben. Warum sollte jemand so was machen?«
»Da gibt es verschiedene Gründe. Das Lumpenpack, die Krähen, warten doch nur darauf, uns Fithich eins auszuwischen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, unsere ungeschlüpften Kinder zu töten, indem sie die Eier aufpicken und sie ausschlecken. – Das kann natürlich auch das andere Gesindel gemacht haben. Dohlen meine ich. Und es gibt auch noch unsere Verwandten, die Elstern. Sobald die etwas Glitzerndes bekommen können, sind sie zu allen Schandtaten bereit. Ja, das muss es sein. Jemand hat sie angeworben, unsere Kinder zu töten!«
»Röiven, bitte versuche klar und nüchtern zu überlegen! Wenn andere Vögel, egal aus welchem Grund das getan haben, hätten sie doch sicher nicht Zoe töten können!«
»Doch, das hätte das gemeine Gesocks sicher gemacht. Zoe hätte unsere Kinder mit allem verteidigt. Sie hätte gekämpft!. Sie hätte nie aufgegeben!«
»Nochmal, versuche logisch zu überlegen. Müssten selbst in diesem Fall nicht viele Federn hier verstreut sein? Davon wären in einem Kampf doch sicher mehrere ausgerupft worden, auf beiden Seiten.«
»Hm, also …«
»Und aus welchem Grund sollten andere Vögel anschließend das Nest verschwinden lassen?«
»Hey, richtig! Du hast Recht. Also sind wir doch an der falschen Stelle angekommen. Wir müssen nur den richtigen Baum finden, dann ist dort auch das Nest mit Zoe und unseren Kindern!« Der Kolkrabe hebt freudig seinen Kopf und schwingt sich in die Luft.
»Zoe, wo bist du. Melde dich! Zoe!«
»Röiven, komm zurück. Wir sind am richtigen Ort. – Röiven!« Doch der Rabe hört nicht. Aufgeregt fliegt er mal hierhin, mal dorthin. Immer wieder ruft er nach seiner Partnerin, doch ohne Erfolg.
Nach langer Zeit kehrt er müde und niedergeschlagen zu seinem Freund zurück.
»Ich finde sie nicht!«, seine Worte klingen verzweifelt, als er mit hängendem Kopf wieder auf dem Arm des Jungen sitzt.
»Der Ort ist richtig«, beginnt Raban langsam und vorsichtig. »Aber aus irgendeinem Grund ist das Nest verschwunden.«
»Das ist wohl wahr, aber warum?«, ist die knarzende Antwort.
»Röiven, könnte das ein anderer Rabe mit Zauberkräften gewesen sein?«
Sofort hebt der Vogel den Kopf und legt ihn schräg. Er klappert mit den Augendeckeln und erwidert:
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