Am 17. Dezember des vergangenen Jahres, einem Donnerstag, war Arno Sperling völlig unerwartet bei mir hereingeschneit und hatte mich mit der ungewöhnlichen Bitte überfallen, ihm bei einem »Bilderbuchprojekt« behilflich zu sein. Und nun, ein knappes Jahr später, war er auf ähnlich kuriose Weise wieder verschwunden.
Gott weiß, welcher Teufel mich geritten hat, als ich mich zwei Tage nach Dorotheas seltsamem Besuch im Sekretariat der Schule krankgemeldet habe und nach Thalbach gefahren bin, um dort auf Spurensuche zu gehen. Ich fühlte mich irgendwie zuständig oder berufen, zumindest glaubte ich, irgendetwas unternehmen zu müssen.
Ich habe keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen und werde mich möglicherweise wegen meines Verdachts in ein paar Tagen lächerlich machen. Wie dem auch sei - nachdem meine Recherchen in Thalbach erfolglos verlaufen sind, ist mir nichts Klügeres eingefallen, als nach Schönfeld zu fahren und beim dortigen Polizeirevier eine Vermisstenanzeige zu erstatten.
Ich hatte keine Ahnung, welche bürokratischen Schritte meiner Anzeige folgen würden. Ein sachkundigerer Kollege erklärte mir heute Vormittag, während einer Pause auf dem Schulhof, da es sich bei Arno um einen Erwachsenen handele, würden Durchschriften des Protokolls an die Landeskriminalämter verteilt und ansonsten werde abgewartet, bis irgendein Hinweis eingehe. »Wir leben schließlich in einem freien Land«, sagte er, »und da kann jeder seine Koffer nehmen und gehen, wann und wohin er will.«
Und nun stelle ich mir vor, wie die ermittelnden Provinzkriminalisten - falls sie überhaupt etwas tun, außer abzuwarten - Aktenordner mit Belegen von Arnos Existenz füllen. Im Schein der ländlichen Thalbacher Idylle werden ihnen wahrscheinlich die gleichen wichtigtuerischen Vermutungen aufgetischt wie mir bei meinem naiven Detektivspiel: Geflüster hinter vorgehaltener Hand, Stammtischgeschwätz, Hausfrauentratsch, Dorfklüngel - nichts, was meinen Verdacht erhärten würde.
»Es gibt kaum einen, dem er mit seiner Fotokamera nicht vor der Nase herumgefuchtelt hat«, erzählte mir Georg Dunkel, der Wehrführer der örtlichen Feuerwehr, den ich aufsuchte, nachdem ich die verkohlten Fensterrahmen im Erdgeschoss von Arnos Elternhaus gesehen hatte. »Viele Freunde hat er sich damit nicht gemacht, denke ich. Außer Dorothea vielleicht«, mutmaßte Dunkel, während er den Schuhschrank aufklappte und ein Paar blank polierte Halbschuhe herausnahm. »Eine Zeitlang hingen die beiden wie Kletten aneinander. Verstanden hat’s niemand, denn dieser Sperling ist einer, vor dem sie meilenweit davonlaufen sollte, denke ich. Aber wer kennt schon die Geheimnisse der Frauenherzen?«
Und dann berichtete mir der philosophierende Feuerwehrmann, wie es am vergangenen Sonntag zum Brand in Arnos Elternhaus gekommen war.
Arnos Bruder Felix hatte als Gastredner auf einer Versammlung des SPD Ortsvereins gesprochen. Die Thalbacher Genossinen und Genossen hatten die Veranstaltung allein wegen ihm auf den Sonntagabend verlegt, weil sein Terminkalender während der Woche lückenlos vollgestopft gewesen war. Dass man andernorts den Tag der Deutschen Einheit bejubelte, hatte dabei keine Rolle gespielt. Für öffentliches Schulterklopfen waren nun mal die in Bonn zuständig; in Thalbach hatten sie das ganze Wiedervereinigungsgerangel von Anfang an mehr von der pragmatischen Seite betrachtet.
»Wochenende gibt’s für den Sperling nicht. Seine Kanzlei und die Politik unter einen Hut zu bringen, das verlangt schon einiges, denke ich. Na, er hat’s ja so gewollt.«
Als er nach der Veranstaltung noch kurz bei seinem Bruder habe vorbeischauen wollen, hätten die Gardinen des Wohnzimmers bereits lichterloh gebrannt. Über das Autotelefon habe er die Feuerwehr alarmiert. Dann habe er sich, von der Furcht getrieben, dem Bruder könne etwas zugestoßen sein, in das brennende Erdgeschoss gewagt.
Dunkel knöpfte sich die Uniformjacke zu und prüfte ihren Sitz im Spiegel der Flurgarderobe. Dann ging er in sein pedantisch aufgeräumtes Junggesellenwohnzimmer und holte einen Ringordner aus dem Schreibtisch.
»Ich denke, ihr Freund war mal wieder blau und is’ mit ’ner Zigarette vor dem Fernseher eingeschlafen. Es kann nur so gewesen sein«, spekulierte er.
»Und? Hat er Arno gefunden?«, fragte ich.
»Nee, das Haus war leer. Der seltsame Knabe hat sich wohl rechtzeitig verdrückt.«
»Vielleicht ist er gar nicht drin gewesen. Vielleicht war er bei Frau Makowski. Wurde sie befragt?«
Dunkel sah mich zwei Sekunden misstrauisch an, dann blätterte er in seinem Ordner und schüttelte den Kopf.
»Es muss so gewesen sein. Aber Felix wollte keinen Wirbel, von wegen Polizei und Anzeige und so weiter. Is’ ja auch verständlich, denke ich. Wer haut schon gerne den eigenen Bruder in die Pfanne? Zumal wir den Brand ziemlich schnell unter Kontrolle hatten. Die Männer haben erstklassig gespurt.« Er schien vor Stolz in seiner Uniform zu wachsen. »Wie ich ihn kenne, wird er sich auf unserer nächsten Hauptversammlung mit ’ner anständigen Spende revanchieren. Is’ schon ein feiner Kerl, der Felix. Gott sei Dank hat er sich nur ein paar kleine Brandwunden im Gesicht und an den Händen zugezogen. Und das mit dem Haus, denke ich, bringt er auch bald wieder in Ordnung. So, und jetzt müssen Sie mich entschuldigen, muss zur Wehrführersitzung nach Schönfeld.«
Es war beachtlich, wie der redselige Feuerwehrmann über alles und jeden im Ort nachzudenken schien und möglicherweise lag er ja richtig. Trotzdem kam ich mir bei meinen Nachforschungen vor, als sei ich in die Kulissen der 536sten Fortsetzung einer RTL-Seifenoper gestolpert; es gab Helden, und es gab Bösewichte - wie im richtigen Fernsehleben. Durfte ich ihren local hero demontieren, bloß weil mir sein angebliches »Nur-kurz-vorbeischauen-wollen« nicht besonders schmeckte?
Wann Arno tatsächlich verschwunden war, konnte mir keiner sagen. Im Gegenteil, wenn ich die verschiedenen Aussagen miteinander verglich, dann war er gleichzeitig an den unterschiedlichsten Orten gesehen worden.
Nur wahre Bösewichte schaffen das, dachte ich und grinste in mich hinein, als man mir erzählte, dass er schon als Jugendlicher ein halsstarriger Vogel gewesen sei, ein kaum zu durchschauender Sonderling, den selbst sein Vater, der sonst so gewiefte Hans Sperling, nicht in den Griff bekommen hatte. Das war nichts Neues für mich, denn zu der Zeit, als er ein halsstarriger Vogel gewesen sein soll, war ich ihm täglich begegnet.
»Hat’s Blut seiner Mutter in den Adern, der Junge. Die hat’s auch immer unterm Rock gejuckt. Aber man darf ja nichts sagen. Jedenfalls hat sie’s irgendwann nicht mehr ausgehalten und is’ mit ’nem pomadigen Spaghettifresser durchgebrannt. Der Hans hätte’s erschlagen sollen, das undankbare Luder«, krähte eine verwitterte Alte aus der Nachbarschaft über den Gartenzaun. Gebückt kauerte sie über einer Furche und sammelte Kartoffeln in einen Sack. Mehr ließ sie sich nicht entlocken. Im nächsten Augenblick hatte sie sich bereits wieder dieselbe Gleichgültigkeit übergestülpt, auf die ich in Thalbach überall stieß, wenn ich nach Arno fragte.
Ich fand, dass sich die Bilanz meines gesammelten Gemunkels vortrefflich als Grundlage für ein Drehbuch zu einem Heimatfilm im Stil der fünfziger Jahre eignete: Handgreiflichkeiten zwischen Arno und Felix wegen Dorothea; Abschiebung des Vaters nach dessen Schlaganfall ins Pflegeheim; Streit zwischen den Brüdern wegen der Aufteilung des zu erwartenden Erbes und so weiter.
»Blödsinniges Gerede. Der Sperling ist ein aufrichtiger Sozi. Die Schwarzen wühlen nur mal wieder im Schlamm, um ihm irgendwie an den Karren pinkeln zu können«, wiegelten seine ebenso aufrichtigen Genossen ab.
Schließlich konnte ich meinen Verdacht nicht länger unterdrücken, versuchte aber, ihn so unverfänglich wie möglich zu formulieren. »Gibt es Rechtsradikale hier im Ort?«
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