1914 - Die Helden von Dorpamarsch
Anfang des Jahres 1914 schien im Deutschen Reich noch alles in Ordnung zu sein, solange August seine Geschäfte mit dem Kaiser machte. Doch seit einiger Zeit brodelte es überall auf der Welt. Eigentlich brodelte es immer irgendwo, und die Gründe waren genauso vielseitig wie in einer Familie mit vielen Kindern. Die Herrscherhäuser waren ja fast alle miteinander verwandt. Niemand heiratete ein Mädchen aus dem Volk. Der von Gottes Gnaden eingesetzte Herrscher musste schon die Tochter eines ebenfalls von Gottes Gnaden geduldeten anderen Herrschers heiraten, damit der Abstand zum Volk stets gewahrt wurde.
Das hinderte die Verwandtschaft aber nicht, sich ständig um etwas zu streiten. Meistens war es Land, das man entweder haben oder verteidigen musste. Es wäre einfacher gewesen, wenn sich die von Gottes Gnaden Eingesetzten selbst die Schädel eingeschlagen hätten, doch das wäre nicht wirkungsvoll genug gewesen. Deshalb musste das Volk herhalten. Das schlug sich stellvertretend für die Herrscher. Man musste den Bürgern nur lange genug erzählen, sie täten es für Volk und Vaterland. Nach einer Weile glaubten sie es, und wenn nicht, konnte man sie auf andere Weise überzeugen, notfalls auch mit dem Vorwurf des Hochverrats oder der Feigheit vor dem Feind, was meist mit dem Tode bestraft wurde. Das überzeugte zwar nicht mehr den Hingerichteten, dafür aber umso wirkungsvoller alle anderen.
Das Prinzip hatte sich Kaiser Wilhelm der Zweite keineswegs selbst ausgedacht. Er hatte es schon so übernommen, und eigentlich hat sich bis heute nicht viel daran geändert.
In einem so kleinen Dorf wie Dorpamarsch, war davon nicht viel zu spüren. So wuchsen die beiden Mädchen auch ohne weitere Höhepunkte so auf, wie es sich für gesittete Mädchen Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte. Inzwischen trug ihre Mutter wieder etwas Geheimnisvolles unter ihrer Schürze, und Emma machte sich ihre eigenen Gedanken. Sie war jetzt 14 Jahre alt, ein Alter, in dem noch niemand auf die Idee kam, sie über das Wunder einer Geburt, geschweige denn über das Entstehen einer Schwangerschaft, aufzuklären. Im Gegenteil: Das Wort „Schwangerschaft“ wurde nie in ihrer Gegenwart in den Mund genommen. Sogar die Erwachsenen untereinander benutzten höchstens die Umschreibung „in anderen Umständen“ – was immer das für Umstände waren. August kürzte selbst dieses ab. Gegenüber Geschäftsfreunden sagte er mitunter: „Meine Frau ist i. A. U.“ Das hörte sich immer wie Katzenmiauen an.
Emma glaubte schon seit einiger Zeit nicht mehr an die Existenz des „Klapperstorchs“. Das schien eine besondere Rasse zu sein. Den normalen Storch sah man oft durch die Wiesen stelzen. Den kannte jedes Kind. Doch der Klapperstorch brachte die Kinder – und nie hatte ihn jemand dabei gesehen.
Mit der unergründlichen Logik eines Kindes ahnte Emma, dass die geheimnisvolle Wölbung unter Mutters Schürze mit einem neuen Geschwisterchen zusammenhing. Doch auf welche Weise das alles vor sich ging, konnte sie sich beim besten Willen nicht zusammenreimen. Selbst die unterschiedliche Gestaltung von Jungen und Mädchen, die sie beim Baden im Dorfteich schon bemerkt hatte, gab ihr nicht zu denken.
An einem Sonntagmorgen besuchte sie den Hof des Bauern Westphal, dessen Kuh gerade gekalbt hatte. Als sie den Stall betrat, war er gerade mit seinem Sohn Mattis dabei, das kleine Kalb mit Stroh abzureiben. „Willst du mithelfen?“, fragte er Emma.
„Ja gerne!“
„Dann kann ich ja gehen!“, murmelte der Bauer und drückte Emma einen Strohwisch in die Hand.
Mattis war schon 17 Jahre alt, also drei Jahre älter als Emma. Zwei Jahre lang hatten sie gemeinsam die Schule besucht, sich aber nicht besonders beachtet.
„Hast du schon einmal die Geburt eines Kalbs gesehen!“, fragte er. Emma schüttelte den Kopf, und Mattis zeigte auf die Kuh, die sich gerade erhob und anfing, ihr Kalb abzulecken.
„Die kam da raus!“, erklärte er. „Vater musste mit einem Strick nachhelfen. Wir haben es beide herausgezogen!“
Emma war beeindruckt. „Und wie ist es in die Kuh reingekommen?“
Auch das konnte Mattis beantworten und erklärte bereitwillig, welche Rolle der Stier dabei übernommen hatte. Für ihn war das alles selbstverständlich, und Emma begriff schnell.
„Und beim Menschen? Geht das genauso?“
„Na klar!“, feixte Mattis. „Du bist genauso auf die Welt gekommen. Deine Mutter war die Kuh und dein Vater der Stier.“ Dann brach er ab, da ihm klar wurde, mit wem er sprach.
„Sag bloß keinem, dass ich dir das erzählt habe!“ Ihm war das plötzlich peinlich, und beide sahen schweigend der Kuh mit ihrem Kalb zu.
So bekam Emma eine etwas merkwürdige Vorstellung von ihrer Geburt. Besonders der Strick ging ihr nicht aus dem Sinn. Wer mag wohl alles daran gezogen haben?
Von diesem Tage an zog es Emma jedes Wochenende zu Mattis, und die beiden nutzten jede Gelegenheit, alleine miteinander zu sein. Und die geheimnisvolle Wölbung unter Mutters Schürze war auch kein Geheimnis mehr.
Ende Juni 1914 hörte man auch in Dorpamarsch von dem Attentat in Sarajewo. Am 28. Juni waren der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie von Hohenberg von einem bosnischen Nationalisten ermordet worden. „Das ist weit weg!“, sagten die Dorpamarscher. „Was geht es uns an?“
Doch sie irrten gewaltig. Keiner von ihnen begriff, warum das Attentat eine so gewaltige Wirkung hatte. Es schlug in die brodelnde Hexenküche Europas ein, wie eine Kanonenkugel in eine Gulaschkanone. Österreich-Ungarn war angegriffen worden. Das brachte viele Herrscher auf die Idee, in dem allgemeinen Durcheinander ihre eigenen Vorstellungen von Gebietsansprüchen durchzusetzen – natürlich mit Krieg. Überall wurde das Volk aufgerufen, das Vaterland zu verteidigen – oder zu vergrößern, zurückzuerobern – oder wie immer man das formulierte.
Der russische Zar Nikolaus der Zweite beschloss eine allgemeine Mobilmachung – man konnte ja nie wissen, wozu das gut war – Großbritannien lehnte eine Neutralitätsgarantie ab, da war Kaiser Wilhelm ja geradezu verpflichtet, einen Krieg in Erwägung zu ziehen.
Bald schlugen sich überall Menschen gegenseitig die Schädel ein, die eigentlich gar kein persönliches Interesse daran hatten. Da musste das deutsche Volk natürlich mithalten! Jedenfalls beschloss der Kaiser es so.
Der 1. August 1914 wurde für die Familie Heldenreich in zweierlei Hinsicht ein besonderer Tag. Gegen Mittag kam August aus dem Schlafzimmer in die Küche gerannt, wo Emma und Berta gerade beim Kartoffelschälen saßen, und forderte Berta auf, sofort die Hebamme Lisbeth zu rufen. Emma schickte er zur Nachbarin Emma Hibbel. Beide Frauen waren in kürzester Zeit zur Stelle, als hätten sie nur auf ein Startsignal gewartet, und stürmten ins Schlafzimmer zu Wilhelmine. Die beiden Mädchen wurden in die Küche verbannt und sollten einen großen Kessel Wasser heißmachen.
Emma ahnte, dass sich jetzt das Geheimnis der Wölbung unter Mutters Küchenschürze aufklären würde, während Berta mit offenem Mund auf die Schreie ihrer Mutter hinter der verschlossenen Tür lauschte.
Kurz nachdem die Kirchturmuhr wieder einmal zwölf Uhr geschlagen hatte (diesmal aber mittags), kam ein helleres Stimmchen dazu: ein Babyschrei!
Emma und Berta hatten ein neues Geschwisterchen, doch August wieder keinen Helden, obwohl der Kaiser gerade jetzt einen gebraucht hätte. Es war ein drittes Mädchen, das man einige Tage später auf den Namen Dora taufte.
Der 1. August 1914 wurde aber nicht nur ein stolzer Tag für die Familie Heldenreich, sondern auch für das Deutsche Reich.
Am Nachmittag läutete der alte Petermann, der manchmal im Auftrag des Bürgermeisters die Funktion eines Dorfboten wahrnahm, auf dem Platz vor dem Rathaus die Dorfglocke und verkündete die allgemeine Mobilmachung. Ansonsten verwies er auf einen Aushang neben der Rathaustür. Dann meldete er dem Bürgermeister Vollzug und holte sich den Schnaps ab, der ihm als Entlohnung zustand.
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