1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Die Augustmark war damit praktisch überflüssig, aber durchaus nicht wertlos geworden. August hatte ja mit seiner eigenen Unterschrift den Gegenwert in Waren garantiert. Nun kamen die Bauern und Händler der Umgebung mit den Augustmarkscheinen und verlangten die Einlösung. Doch das war auch kein Problem, denn August hatte im Laufe der letzten Jahre durch Tauschgeschäfte so viel an Waren angesammelt, dass er alle Gläubiger befriedigen konnte. Im Gegenteil: Insgesamt hatte sich sein eigenes Währungssystem bewährt und ihm einen erklecklichen Gewinn eingebracht.
Ihm war klar, dass das nur mit dem Wohlwollen der Dorpamarscher möglich gewesen war. Deshalb lud er zum 30. August 1924 das ganze Dorf zu einem großen Fest auf der Festwiese ein. Er spendierte zwei Fässer Bier und einen Ochsen am Spieß, andere Dörfler brachten schwarz gebrannten Schnaps und der Bürgermeister einen großen Hecht mit, den er persönlich in der Dörpe gewildert hatte. Das war eine Ehrengabe für August Heldenreich, der nun doch noch zum Dorfhelden geworden war.
Das Datum der Feier war symbolhaft: Ende August war endgültig auch das Ende der Augustmark gekommen.
Die drei Mädchen amüsierten sich auf dieser Feier prächtig. Die 24-jährige Emma nutzte die Gelegenheit, mit den jungen Männern des Dorfes zu tanzen. Da sie als „gute Partie“ galt, gab es durchaus genügend Interessenten, aber ihr Herz hatte noch bei keinem mitgesprochen.
Berta wurde in wenigen Tagen 18 Jahre alt und war gleichermaßen umschwärmt. Doch bevor Emma unter der Haube war, dachte sie selbst an keine Bindung.
Die Jüngste, Dora, 10 Jahre alt, hüpfte fröhlich mit den anderen Dorfkindern herum. Sie fand zwar alle Jungen doof, aber der eine oder andere durfte doch mal mit ihr gemeinsam um die Linde springen.
Ein junger Mann erregte Emmas Aufmerksamkeit, kaum dass er auf dem Festplatz erschien. Er war erst vor Kurzem nach Dorpamarsch zugezogen und hatte eine Arztpraxis eröffnet. Einen Arzt in Dorpamarsch – das gab es bisher noch nicht. Er sah außerdem auch sehr gut aus, fand Emma.
„Dr. med. Phileas Rosenstrauch“, stand auf dem emaillierten Schild an seiner Praxis. Nur ihre Mutter hatte ihn schon einmal wegen ihres „nervösen Magens“ aufgesucht und fand ihn ganz passabel, was immer sie damit meinte.
Als Phileas jetzt den Festplatz betrat, bekam Emma sofort ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch.
Es kam, wie es kommen musste. Die beiden tanzten miteinander so oft sie konnten, und Emma lehnte ab sofort die Aufforderungen der anderen Burschen entschieden ab, bis diese es schließlich aufgaben. Gegen einen „Studierten“ kamen sie nicht an.
Leider nahm der Abend einen ganz unerwünschten Verlauf.
Während Emma und Phileas gerade tanzten, hörten sie plötzlich am Tisch ihres Vaters eine hektische Aufregung. Emma konnte ihren Vater nicht sehen, denn viele Dörfler standen um ihn herum und schrien durcheinander. Was war geschehen?
Die Frau des Bürgermeisters hatte August kurz zuvor den persönlich zubereiteten Hecht serviert. Dabei erklärte sie feierlich, dass sich im Kopf des Hechtes die Insignien der Kreuzigung Christi befänden: das Kreuz, eine Lanze und ein Nagel.
Umständlich band sich August ein großes Leinentuch um den Hals und begann vor aller Augen, den Kopf des gekochten Hechtes zu zerlegen. Tatsächlich: Aus der Stirn des Hechtes löste er einen Knochen, der wie ein sakrales barockes Kreuz aussah. August suchte nach der Lanze. Da kamen mehrere Gräten infrage, ebenso noch kleinere als Nägel. Er reihte zwei Lanzen und ein halbes Dutzend Nägel auf dem Tellerrand auf und erntete dafür großen Applaus. Dann begann er, den Hecht genüsslich zu verspeisen.
Leider bekam er ihm nicht so gut. Eine große Gräte blieb ihm im Halse stecken und stellte sich quer. August hustete und japste nach Luft. Die Umstehenden lachten. Erst als sein Gesicht blau anlief, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst. Man schrie nach dem Arzt, und Dr. med. Phileas Rosenstrauch eilte sofort herbei. Doch er hatte seine Arzttasche nicht dabei, und einige Versuche, die Gräte mit spitzen Fingern zu entfernen, führten nicht zum Erfolg.
August starb am 30. August 1924, im Alter von 48 Jahren, gemeinsam mit seiner Augustmark. An diesem Tag wurde auch die vor einem Jahr eingeführte Rentenmark von der neuen Reichsmark abgelöst.
1926 - Hochzeit mit Rosenstrauch
Nach dem Tod ihres Mannes stand seine Witwe Wilhelmine Heldenreich ziemlich hilflos vor den Problemen eines gut gehenden Gemischtwarengeschäfts. Sie hatte sich in der Vergangenheit kaum um den Laden gekümmert. Außerdem fehlten ihr Geschick und Schlitzohrigkeit, mit denen August sich immer durch die Tücken der Wirtschaftskrisen hindurchlaviert hatte. Doch zum Glück gab es Emma im Haus. Diese hatte genug von den Geschäften ihres Vaters mitbekommen, um sie weiterführen zu können. Sie war jetzt 26 Jahre alt und kümmerte sich um den Fortbestand.
Ihre Mutter verkraftete den Tod ihres Mannes aber nur schwer und zog sich immer mehr zurück. Sie vernachlässigte nicht nur das Geschäft und die Familie, sondern auch sich selbst. Sie aß kaum noch etwas und verfiel auch zusehends gesundheitlich.
Emma kümmerte sich inzwischen aber rührend um ihre Schwestern. Sie schwankte zwischen familiärer Pflichterfüllung und ihrem eigenen Empfinden. Seit dem Tod ihres Vaters auf dem Dorffest ging ihr der junge Arzt Dr. Phileas Rosenstrauch nicht mehr aus dem Kopf. War er ihr ebenso zugeneigt, wie es beim Tanz den Anschein hatte?
Doch der Arzt behielt ihr gegenüber einen kühlen Kopf und verhielt sich freundlich aber unverbindlich. Er war noch dabei, seine Praxis aufzubauen und die Dörfler von den Fähigkeiten eines jungen Arztes zu überzeugen. Die misslungene Rettungsaktion hatte nicht gerade zu seinem Ansehen beigetragen. Ein Arzt muss unfehlbar sein, dachten die meisten Einheimischen, von denen viele noch nie einen Arzt besucht hatten, weil sie dazu erst in die Kreisstadt hätten fahren müssen. Nun gab es einen Arzt in Dorpamarsch, doch dieser musste sich die allgemeine Anerkennung erst verdienen.
Emma liebte Phileas aus der Ferne, denn es hätte sich nicht geschickt, sich öffentlich mit ihm zu zeigen. Außerdem wusste sie ja nicht, ob er ebenfalls etwas für sie empfand. Leider war sie auch von strotzender Gesundheit, sodass es keinen Grund gab, ihn in seiner Praxis aufzusuchen.
Doch dann fasste Emma einen Entschluss. Sie nahm all ihren Mut zusammen, zog ein schlichtes unauffälliges Kleid an, band ein Kopftuch um und ging die Hauptstraße entlang zur Arztpraxis, die Phileas im Wohnhaus der Witwe Eberbach gemietet hatte. In einer kleinen Mansardenkammer wohnte er selbst.
Unterwegs schaute sich Emma immer wieder unauffällig um, wer sie alles sah. Man konnte in Dorpamarsch keinen Fuß auf die Straße setzen, ohne dass es von irgendjemandem registriert wurde. Als sie gerade zum Haus des Arztes einbiegen wollte, traf sie auf Elfriede Brödermann, die Frau des Bürgermeisters.
„Oh“, fragte diese auch gleich teilnahmsvoll, „sind Sie krank, dass Sie den Doktor aufsuchen müssen?“
Darauf hatte Emma nur gewartet. „Nein, Frau Bürgermeister“, sagte sie gedämpft, „es ist wegen meiner Mutter. Es geht ihr gar nicht gut! Vielleicht kann der Doktor sie mal besuchen.“
Elfriede fühlte sich geehrt, weil Emma sie mit „Frau Bürgermeisterin“ angeredet hatte, doch es war damals durchaus üblich, die Frauen mit dem Titel ihres Mannes zu bezeichnen. Emma wiederum wusste ihre Geschichte nun in besten Händen, denn Elfriede würde garantiert dafür sorgen, dass der angegriffene Gesundheitszustand ihrer Mutter schnell im Dorf verbreitet wurde.
Sie betrat die Praxis des Arztes, wo Phileas gerade damit beschäftigt war, die lädierte Hand eines Bauernjungen zu versorgen. Es war zwar nur eine Schürfwunde, doch der Bengel schrie wie am Spieß, als der Doktor sie mit Jod bepinselte. Die anwesende Mutter schien nicht viel Mitleid zu haben. „Ich hab dir zigmal gesagt, du sollst nicht immer so rasen!“, zeterte sie, schaute aber bereits in Emmas Richtung, um abzuschätzen, weshalb diese den Arzt aufsuchte. Rein äußerlich war nichts zu erkennen, und auch der kurze Blick auf Emmas Bauch gab ihr keine Anhaltspunkte. Nach der Verarztung ihres Sohnes trödelte sie noch etwas in der Praxis herum, um zu hören, ob es etwas gab, das sie ihrer Nachbarin erzählen konnte.
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