Als Zubrowski von seiner Geschäftsreise zurückkam, beruhigte er Wilhelmine: „Es ist alles in Ordnung, meine Liebe! Da du als Aktionärin sehr kurzfristig dazugekommen bist, hat man dich bei den Einladungen noch nicht berücksichtigen können!“
Inzwischen duzte man sich.
Ende des Jahres ging ein erster Betrag als Dividende auf ihrem Privatkonto ein, und die ganze Familie war beruhigt.
Das Weihnachtsfest, das man gemeinsam im Hause Heldenreich/Rosenstrauch feierte, verlief so fröhlich, wie schon lange nicht mehr. Wilhelmine war es möglich, ihren drei Töchtern dank der Dividende großzügige Geschenke zu machen, und alle waren glücklich, vor allem, weil ihre Mutter auch wieder lachen konnte.
Noch am Silvesterabend hatte Zubrowski Wilhelmine einen Antrag gemacht, den sie mit freudiger Erregung auch wohlwollend annahm. Seitdem er in ihr Leben getreten war, hatte sie wieder angefangen, daran teilzuhaben. Nur die Töchter Emma, Berta und Dora sahen mit skeptischer Erwartung in die Zukunft. Sie konnten sich den aalglatten Geschäftsmann beim besten Willen nicht als Stiefvater vorstellen. Das galt besonders für die noch nicht volljährige vierzehnjährige Dora. Allerdings verzichtete Zubrowski darauf, sich „Vater“ nennen zu lassen. Er wurde allgemein als „Onkel Fredi“ bezeichnet.
Anfang des Jahres begab sich Zubrowski, wie er sagte, auf eine längere Geschäftsreise. Wilhelmines Frage nach dem Anlass ließ er unbeantwortet, doch er deutete an, dass sich ihr Vermögen, wenn alles gut ging, sehr bald erheblich vermehren würde. Sie ließ ihn voller banger Erwartung ziehen.
Allerdings ließ er den ganzen Januar über nichts von sich hören. Noch nicht mal eine kurze Postkarte kam von ihm an. Als er sich auch im Februar nicht meldete, machten sich alle einige Sorgen. Zubrowski blieb verschollen.
Ende Februar teilte der wichtigste Lieferant für Kolonialwaren mit, dass er ab sofort nur noch gegen sofortige Barzahlung liefern würde. Das hatte er noch nie gefordert, und es schien ihm auch außerordentlich peinlich zu sein, darauf hinzuweisen, dass der letzte Scheck von der Bank nicht eingelöst worden war.
Emma war empört. Das konnte nur ein Irrtum sein.
Am nächsten Tag fuhr sie persönlich zur Nordmarschbank Pamphusen, um das Missverständnis aufzuklären. Dort erfuhr sie, dass das Geschäftskonto praktisch leer war. Der Kassenleiter zeigte ihr die zahlreichen Barschecks, die in den letzten Wochen mit Zubrowskis Unterschrift eingereicht worden waren. Immerhin hatte er von Wilhelmine Heldenreich Bankvollmacht erhalten. Eine größere Überweisung war von dem Geschäftskonto auf Wilhelmines Privatkonto geflossen. Sie entsprach genau dem Betrag der angeblichen Dividende durch den Norddeutschen Lloyd. Ansonsten hatte Zubrowski das Geschäftskonto vollständig leer geräumt.
Emma war wie am Boden zerstört. Zubrowski würde nie wieder auftauchen. Das war schon mal klar! Es blieb ihr nichts weiter übrig, als ihre Mutter von diesem schweren Schlag in Kenntnis zu setzen.
Wilhelmine war nicht in der Lage, die Situation richtig einzuordnen. „Das kann nicht sein!“, widersprach sie. „Das wird sich alles noch aufklären! Wart‘ nur, bis Fredi wiederkommt!“
„Der kommt nicht mehr!“, behauptete Emma.
„Aber ich habe doch die Dividende bekommen!“
„Die war von unserem eigenen Geschäftskonto. Er hat dir unser eigenes Geld überwiesen.“
„Aber das Geld habe ich noch. Das kann ich ja zurückgeben!“, atmete Wilhelmine auf. Sie hoffte immer noch, dass Zubrowski bald auftauchen und alles klären würde.
Es wurde noch schlimmer: Als Wilhelmine die Rücküberweisung vornehmen wollte, stellte sich heraus, dass auch ihr Privatkonto restlos geplündert worden war. Zubrowski hatte ganze Arbeit geleistet. Somit war auch die letzte Hoffnung zerstört worden. Das gediegene und angesehene Handelshaus Heldenreich war bankrott und Wilhelmine persönlich pleite. Alles, was der Familie noch blieb, war das Einkommen Phileas‘ aus der Arztpraxis, und das war herzlich wenig.
Aber Wilhelmine hatte ja noch das dicke Aktienpaket der Lloyd-Reederei. Das konnte ja nicht völlig wertlos sein.
Am Montag, den 25. März 1929, ließ sie sich mit dem Postbus zum Bahnhof in die Kreisstadt fahren und setzte sich in den Zug nach Bremen. Dort fragte sie sich zu dem bekannten Verwaltungsgebäude des Norddeutschen Lloyd in der Papenstraße durch. Schon von Weitem war der markante Turm zu sehen.
Als der grimmige Pförtner am Haupteingang sie auf ihre Frage nach dem Generaldirektor zunächst abweisen wollte, öffnete sie ihre Reisetasche und holte das Aktienpaket heraus. Das war wie eine Eintrittskarte. Der Pförtner rief einen Botenjungen heran, der sie persönlich zum Sekretariat des Generaldirektors Carl Stimming führte.
Die ältliche Chefsekretärin Fräulein Hansen war es gewohnt, alle Belästigungen von ihrem Chef fernzuhalten, doch auch hier erwiesen sich die Aktien als hilfreich, wenn auch in einer anderen Richtung. Sie warf nur einen kurzen Blick auf die Aktiendrucke, bat Wilhelmine, einen Augenblick zu warten und klopfte an die Tür des Chefs.
„Herr Generaldirektor“, sagte sie mit gedämpfter Stimme, nachdem sie die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, „draußen bittet eine Frau Wilhelmine Heldenreich vorgelassen zu werden.“
„Na und?“, fragte Stimming, ohne den Kopf von seinem Schreibtisch zu heben. „Leiten Sie sie weiter! Das Übliche!“
„Da ist noch etwas, Herr Generaldirektor!“, meinte die wackere Vorzimmerdame.
Stimming hob den Kopf und schaute fragend.
„Sie hat einige Papiere bei sich, die sie nur Ihnen zeigen will.“
Das erweckte allerdings Stimmings Interesse.
„Wie heißt die Frau? Heldenreich? Etwa Heldenreich aus Dorpamarsch?“
„Das ist wohl richtig“, bestätigte Fräulein Hansen.
„Lassen Sie sie bitte rein, Fräulein Hansen!“, sagte Stimming und erhob sich, um ihr entgegenzugehen.
„Ah, Frau Heldenreich aus Dorpamarsch!“, begrüßte er Wilhelmine, die etwas erstaunt über diesen Empfang war.
„Herr Generaldirektor …“, begann sie, doch Stimming unterbrach sie, bot ihr einen Platz in einer geräumigen Sitzgarnitur an und setzte sich ihr gegenüber.
„Es freut mich sehr, Sie persönlich kennen zu lernen! Sie sind doch die Gattin des Hoflieferanten August Heldenreich?“
Wilhelmine kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Ich war es“, bestätigte sie zögernd.
„Was soll das heißen?“, fragte Stimming nach.
„Mein Mann ist vor fünf Jahre gestorben.“
„Oh, das tut mir leid! Mein herzliches Beileid!“
Fräulein Hansen brachte ein kleines Tablett mit Kaffee, Sahne und Zucker und goss zwei Tassen ein. Nachdem sie sich wieder zurückgezogen hatte, begann Stimming erneut: „Sie wissen vielleicht nicht, dass ich meine maritime Laufbahn bei der Kaiserlichen Marine begonnen habe.“ Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, erklärte er, habe er die Laufbahn in der Marineverwaltung eingeschlagen und war von 1903 bis 1910, zuletzt als Abteilungsvorstand, bei der Kaiserlichen Marineintendantur in Kiel. Später wurde er als Hilfsreferent ins Reichsmarineministerium berufen und avancierte zum Dezernenten für die Garnisonsverwaltung. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er mit der Organisation der Proviantzentrale betraut. 1915 trat er als Referent der Reichsfinanzverwaltung zum Reichsschatzamt über. 1917 wurde er zum Geh. Oberregierungsrat ernannt, verließ aber im gleichen Jahr den Reichsdienst und trat als Mitglied in den Vorstand des Norddeutschen Lloyd ein. 1921 wurde er Generaldirektor.
„Und sehen Sie“, schloss er seinen kurzen Lebenslauf ab, „während meiner Zeit bei der Proviantzentrale habe ich Ihren Gatten als zuverlässigen Lieferanten kennen gelernt. Er war ja immerhin Kaiserlicher Hoflieferant, auch wenn das jetzt nichts mehr zu bedeuten hat.“
Читать дальше