Während Emma brav zur Schule ging, wuchs Berta wohlbehütet bei ihren Eltern in Dorpamarsch auf. Die nächsten Jahre vergingen ohne Höhepunkte, abgesehen davon, dass ihr Vater August Heldenreich noch immer gute Geschäfte mit der Marine machte. Er tat immer so, als würde er den Kaiser persönlich kennen, in Wirklichkeit bekamen sich die beiden jedoch nie zu sehen. Dafür war er bei Admiral von Tirpitz bestens bekannt, auch wenn die beiden sich ebenfalls nie persönlich kennen gelernt hatten. Das sollte sich aber am 28. Januar 1911 ändern. Einen Tag vorher war Alfred von Tirpitz von Kaiser Wilhelm dem Zweiten zum Großadmiral ernannt worden und am 28. Januar fand in Wilhelmshaven ein großer Empfang an Bord des Panzerkreuzers „SMS Blücher“ statt, zu dem alles eingeladen war, was in der Marine Rang und Namen hatte.
Auch an den Hof- und Marinelieferanten August Heldenreich hatte man gedacht, und Tirpitz erinnerte sich sogar an den Ehrentaler des Kaisers und fügte handschriftlich hinzu, dass auch Emma herzlich willkommen sei. Er wäre froh, seinen besten Lieferanten auf diese Weise einmal persönlich kennen zu lernen, und mit ein bisschen Glück könnten sie auch dem Kaiser vorgestellt werden.
August wunderte sich etwas, dass nur Emma eingeladen war, obwohl Berta je ebenfalls ein Goldstück bekommen hatte. Das konnte nur ein Versehen sein. Er beschloss deshalb, beide Mädchen mitzunehmen. Emma war gerade elf Jahre alt geworden und Berta viereinhalb.
Mit Postkutsche und Eisenbahn reisten die Drei nach Wilhelmshaven, staunten über die neue Kaiser-Wilhelm-Brücke, die vier Jahre zuvor fertiggestellte größte Drehbrücke Deutschlands, welche die Stadt mit dem Südhafen verband, und landeten schließlich am großen Portal zum Marinehafen. Dort kümmerte sich ein junger Leutnant zur See um sie und erklärte, dass er sie während des ganzen Empfangs begleiten werde. Er war extra für die Betreuung Emmas abgestellt worden. Dass jetzt zusätzlich auch noch Berta dabei war, schien ihn wenig zu erschüttern. Das war August durchaus recht, denn als Zivilist waren ihm die maritimen Gepflogenheiten nicht sehr geläufig.
Die erste Klippe mussten sie schon beim Betreten des Panzerkreuzers überwinden. Als sie in Begleitung des Leutnants die Gangway betraten, hörten sie vom Schiff her ein merkwürdiges Pfeifen. Dort stand ein Matrose und blies mit dicken Backen auf einer kleinen aber durchdringenden Pfeife.
Das war das in der Marine übliche „Seite pfeifen“, eine Ehrerweisung für Offiziere und hochrangige Gäste, die an Bord kamen oder das Schiff verließen. August nahm das nur so nebenbei wahr, ohne es als Ehre für sich selbst zu deuten. Die beiden Mädchen schauten interessiert nach unten ins Wasser. Plötzlich blieb Berta stehen, zeigte nach unten und rief: „Ein Fisch! Kuck mal, ein ganz großer Fisch!“
Auch August und Emma blieben stehen und beugten sich über die Reling nach unten. Tatsächlich: Dort schwamm ein recht großer Fisch im Wasser. Der Leutnant versuchte, die Mädchen zum Weitergehen zu veranlassen, doch diese waren vorrangig an dem Fisch interessiert. Sie bemerkten natürlich nicht, was sie damit an Bord auslösten, denn der Bootsmannsmaat, der die Pfeife blies, kam langsam in Bedrängnis. Das Protokoll verlangte, dass er während des ganzen Weges über die Gangway ununterbrochen zu pfeifen hatte. Doch niemand rechnete mit dem Interesse zweier kleiner Mädchen an einem großen Fisch. Nun ging dem Bootsmannsmaat langsam die Puste aus. Die Backen wurden immer dünner, sein Gesicht nahm eine blaurote Farbe an, doch tapfer presste der wackere Mann noch die allerletzte Luft aus seiner Lunge, bis der Ton schließlich mit einem erbärmlichen Piepser erstarb. Erst jetzt gelang es dem Leutnant, die Mädchen von der Reling loszulösen und mit ihrem Vater auf das Schiff zu führen. Der Bootsmannsmaat stand unbeweglich mit starrem Blick nach vorn auf dem Deck und würdigte die Gäste keines Blickes. Wahrscheinlich holte er schon wieder Luft für den nächsten Gast, der hoffentlich in normalem Tempo an Bord kam.
Diesen maritimen Lapsus nahm niemand den Mädchen übel, soweit man das überhaupt bemerkt hatte.
Der Leutnant kümmerte sich rührend um die Familie, und August wurde endlich dem Großadmiral von Tirpitz vorgestellt. Das heißt, eigentlich schloss er sich nur der Schlange von Gratulanten an. Als er endlich einem anderen Offizier seinen Namen nannte, der ihn dann dem Großadmiral vorstellte, sah Tirpitz nur kurz auf, um sich dann gleich dem nächsten Gratulanten zu widmen. Das war alles! Vom Kaiser sah er nur die Mütze aus der Ferne, denn dieser war umringt von einem noch größeren Kreis von Personen, die alle hofften, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Darauf konnte August verzichten.
Die Mädchen genossen inzwischen einen Rundgang durch das Schiff. Das war mächtig aufregend, und der Leutnant bemühte sich, alle noch so kindlichen Fragen geduldig zu beantworten. Sogar auf die große Kanone wollten die Mädchen hinaufsteigen, und der Leutnant hob sie auf den Geschützstand, wo sie durch das lange Rohr schauen konnten. Er zeigte ihnen, mit welchem Hebel ein Schuss ausgelöst werden konnte. Die Mädchen versuchten es auch einmal. Es ging ganz leicht. „Nun habt ihr ein Schiff versenkt!“, meinte der Leutnant lachend.
Schließlich gelangten sie auch in die Offiziersmesse, in der eine gewaltige Batterie an Getränken aufgebaut war. Eine Sektflasche nach der anderen wurde von diensteifrigen Matrosen geöffnet, und die Mädchen zuckten jedes Mal zusammen, wenn die Korken mit lautem Knall herausflogen. Sie selber bekamen jede ein Glas Limonade, doch die Sektflaschen brachten Emma auf eine Idee: „Eine Flaschenpost!“, rief sie begeistert. „Wir schreiben eine Flaschenpost! Ist das möglich?“, fragte sie den Offizier.
„Alles, was ihr wollt!“, sagte dieser und griff zu einer leeren Sektflasche. „Jetzt braucht ihr nur noch Papier und Tinte. Ich besorge euch was. Bleibt so lange hier sitzen und rennt nicht weg!“
Damit verschwand er und kam nach einigen Minuten mit einem Bogen Papier, einem Tintenfass und einem Federhalter zurück. Die Mädchen zogen sich an einen Tisch in der Ecke der Messe zurück. „Was sollen wir schreiben?“, fragten sie den netten Leutnant.
„Was ihr wollt! Schreibt doch einfach, wo ihr gerade seid!“, machte er einen Vorschlag.
„Wie heißen Sie?“, fragte sie ihren Betreuer. Der antwortete überrascht: „Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell.“
„Haben Sie auch Kinder?“, wollte Emma jetzt wissen.
„Das nicht, aber ich habe 13 Geschwister. Da kenn ich mich mit kleinen Mädchen aus. Mein Vater ist Pastor in Hamburg-Eilbeck.“
Emma nickte, tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb mit ihrer allerbesten Schrift:
Das ist eine wichtige Flaschenpost.
Wir sind hier auf dem Panzerkreuzer SMS Blücher zusammen mit Kaiser Wilhelm dem Zweiten und Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell. Wir haben gerade ein Schiff versenkt. Das hat Spaß gemacht. Bitte schicken Sie diese Nachricht an Wilhelmine Heldenreich, Dorpamarsch im Deutschen Reich. Unser Vater ist gerade bei dem großen Admiral Tirpitz und lässt auch grüßen.
Viele Grüße von Emma und Berta.
Der Leutnant rollte das Blatt zusammen und steckte es in eine Sektflasche. Da es ihm nicht gelang, den dicken Korken wieder in die Öffnung zu quetschen, nahm er den Korken einer Weinflasche und verschloss die Flaschenpost.
„Nun werfen wir sie ins Wasser!“, forderte Emma, und die Drei gingen an Deck, wo sie Berta persönlich über die Reling warf.
Ebenfalls zu dem Empfang eingeladen war der Wissenschaftler Knud Rasmussen, der mit dem Bruder des Kaisers Prinz Heinrich von Preußen, nach dem später die bekannte Prinz-Heinrich-Mütze benannt wurde, befreundet war.
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