Es wurde ein feucht-fröhlicher Willkommensgruß für den neuen Erdenbürger.
Unterdessen hatte Lisbeth das Kind gebadet, in ein trockenes Tuch gewickelt und Wilhelmine in den Arm gelegt. „Hier hast du deine Deern“, sagte sie bedauernd.
„Ein Mädchen?“, fragte Wilhelmine.
„Ja, es ist nun mal kein Held geworden.“
So kam August und Wilhelmine Heldenreichs Tochter auf die Welt.
Doch als August sie am nächsten Morgen – das war am 2. Januar – beim Bürgermeister offiziell anmelden wollte, gab es noch einen kleinen Streit zu klären. Lisbeth hatte als Geburtstermin den 31. Dezember 1899 angegeben, und jetzt gab August den 1. Januar 1900 an. Was war denn nun richtig? War der Nachwuchs jetzt das letzte Baby im 19. oder das erste im 20. Jahrhundert? Das war schon wichtig!
Der Bürgermeister ließ alle Beteiligten zu sich kommen, um die Angelegenheit zu klären. Emma Hibbel sagte, dass die Kirchturmuhr bereits Zwölf geschlagen hatte, als das Kind zur Welt kam. Brödermann überzeugte sich davon, dass die Uhr der Hebamme gegenüber der Kirchturmuhr nachging. Lisbeth schwor, dass ihre eigene Uhr die einzig ausschlaggebende war, denn sie hatte alle von ihr zur Welt gebrachten Kinder nur nach dieser Uhr registriert. Die Kirchturmuhr konnte also nur falsch gehen.
Das war eine verzwickte Angelegenheit, die der Bürgermeister da lösen musste. Er rief den Dorfgendarmen hinzu, der als Amtsperson ein gewichtiges Wort mitsprechen konnte. Doch es stellte sich heraus, dass auch dieser seine Uhr täglich mit der Kirchturmuhr verglich. Bei dem Briefträger war es genauso. So kam man also nicht weiter. Doch der Briefträger hatte eine ganz andere Idee.
„Die Eisenbahn!“, fiel ihm ein. „Auf allen Bahnhöfen im Land zeigen die Uhren die gleiche Zeit an, denn die Lokführer sind verpflichtet, ihre Amtsuhren nach der Uhr der Kreisstadt zu stellen und mit jeder Bahnhofsuhr auf ihrer Strecke zu vergleichen. Auf diese Weise gibt es auf der ganzen Strecke keine Zeitunterschiede.“
Genauer konnte die Zeit also gar nicht festgestellt werden. Der Gendarm bekam nun den standesamtlichen Auftrag, mit dem Fahrrad in die Kreisstadt Pamphusen zu fahren, um seine zur Amtsuhr aufgewerteten Taschenuhr mit der Eisenbahnzeit zu vergleichen. Der Küster war über diese Maßnahme etwas erbost, denn er hielt es für selbstverständlich, dass die Kirchturmuhr die richtige Zeit anzeigte. Und er bekam recht. Der Dorfpolizist konnte die Richtigkeit bestätigen. Er hatte in dieser Streitfrage die körperlich anstrengendste Arbeit geleistet, was der Bürgermeister mit einem gehörigen Schluck Bier honorierte. Jetzt konnten alle zufrieden sein, außer der Hebamme, die nun ihre Taschenuhr zum ersten Mal korrigieren musste. Das ging ihr gewaltig gegen den Strich.
So wurde das immer noch namenlose Mädchen der Heldenreichs das erste Kind des neuen Jahrhunderts im Dorf, und der Bürgermeister notierte nicht nur gewissenhaft Datum und Uhrzeit, sondern schrieb noch „mit dem Glockenschlag“ dahinter.
Als das Kind dann von Pastor Leverenz getauft werden sollte, stellte sich heraus, dass die Eltern zwar viele Jungennamen parat hatten, jedoch keinen für Mädchen. Doch sie waren der Nachbarin Emma Hibbel so dankbar für ihr gutes Gehör, dass sie ihr anboten, Namenspatin zu werden. Endlich hatte Emma Heldenreich, geboren am 1. Januar 1900, null Uhr, mit dem Glockenschlag, in Dorpamarsch, ihren Namen.
Es stellte sich heraus, dass es im ganzen Deutschen Reich keine frühere Geburt gegeben hatte, und der Kaiser ließ Emma ein echtes Goldstück schicken, das ihr zusammen mit einer gewaltigen Urkunde vom Bürgermeister ausgehändigt wurde.
Zunächst nahm August beides entgegen und gab beim Schreiner den Auftrag, einen schönen Rahmen zu bauen. So hing fortan die Urkunde an der Wand des Kaufmannsladens und die Münze verschwand in einer Schatulle.
Die kleine Emma wurde im Dorf aber nur noch „Kaiserdeern“ genannt. Schade: Aus der Patenschaft war ja nun nichts geworden, doch der „genannte“ August und Wilhelmine waren trotzdem recht stolz.
1906 - Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant
Neben der Eingangstür von Augusts Kaufmannsladen prangte ein Schild mit der Aufschrift:
„August Heldenreich, Colonialwaren, Delikatessen, Tabak und Cigarren, Bisquits, Tee, Kaffeesurrogate, Fisch, Nährmittel und Waren des täglichen Gebrauchs, Eisenwaren, landwirtschaftliche Bedarfsartikel und Sämereien“.
Mit anderen Worten: August verkaufte alles, und was er gerade nicht vorrätig hatte, konnte er bestellen.
Wie es sich gehörte, hatte August sich bei Kaiser Wilhelm II mit einem artigen Brief im Namen seiner Tochter für das Goldstück bedankt und auch noch eine Packung Kautabak hinzugefügt – eine echte Norddeutsche Spezialität. Das würde Kaiser Wilhelm Zwo als Freund und Förderer der Marine sicherlich gefallen. Zu seiner Verblüffung erhielt er Antwort von der Kaiserlichen Marine in Wilhelmshaven mit einer Bestellung von zehn Päckchen Kautabak bester Qualität für Marineoffiziere und durfte sich fortan als „Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant“ bezeichnen, was in einem Begleitschreiben ausdrücklich bestätigt wurde. Ein zweiter Bilderrahmen mit dem kaiserlichen Schreiben machte sich an der Wand seines Ladens recht gut und belebte das Geschäft.
Leider war sein Kundenkreis in Dorpamarsch sehr begrenzt. Die wenigen Einwohner bestanden zum größten Teil aus den Familien der Bauern und ihren Knechten und Mägden. Die waren überwiegend Selbstversorger. Sie lebten und ernährten sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Land und seinen Früchten. Nur was sie nicht selbst anbauen konnten, mussten sie bei August kaufen. Seit Reichskanzler Otto von Bismarck seinen Widerstand gegen Deutsche Kolonien im Ausland aufgegeben hatte, nahmen die dort angebauten Früchte einen immer größeren Rahmen in deutschen Geschäften ein. Bald wurde der Begriff „Kolonialwaren“ für Lebensmittel aller Art benutzt.
Es zeigte sich auch bald, dass es für August gut war, einen Fuß bei der Marine in Wilhelmshaven in der Tür zu haben. Dort war Alfred Tirpitz wenige Tage vor Emmas Geburt gerade Vizeadmiral geworden. Das Empfehlungsschreiben des Kaisers hatte seine Aufmerksamkeit auf August Heldenreich gelenkt, und er ging davon aus, dass dieser ein erfahrener Lieferant und Schiffsausrüster sei. Wann immer man bei der Kaiserlichen Marine, und besonders auf der Kaiserlichen Werft, etwas benötigte, bestellte man es der Einfachheit halber bei ihm, was den Herren Ausrüstungsoffizieren eine Menge Zeit und Arbeit sparte. Teilweise waren es aber für die Schiffsausrüstung typische Waren, die er erst bei ortsansässigen Handlungshäusern in Wilhelmshaven bestellen musste. Das fiel denen natürlich negativ auf. Um aber die positiven Geschäftsentwicklungen nicht zu gefährden, ließ er die Wilhelmshavener Lieferungen direkt über die örtlichen Firmen ausliefern. In der Praxis leitete er alle Bestellungen an die Firmen weiter, welche schon vorher geliefert hatten, und strich lediglich eine erkleckliche Provision ein. So blieb alles beim Alten: Die Marine verlor nicht die Erfahrungen der alteingesessenen Firmen und diese behielten ihre Einkünfte. Die Handelsvertreter vertraten jetzt nicht nur ihre bisherigen Firmen, sondern auch das Handlungshaus „August Heldenreich“ und strichen auch von ihm Provisionen ein. So waren alle glücklich und zufrieden.
Vizeadmiral Tirpitz fühlte sich verpflichtet, dem Kaiser bei passender Gelegenheit von den Auswirkungen des Empfehlungsschreibens zu berichten. Wilhelm der Zweite konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern – er hatte fürwahr ganz andere Dinge im Kopf – doch da Tirpitz seine eigenen Verdienste in dieser Angelegenheit in aller Bescheidenheit ausdrücklich darstellte, wurde er noch im gleichen Jahr in den Adelsstand erhoben und durfte sich jetzt „Alfred von Tirpitz“ nennen. Obwohl er 1903 zum Admiral und 1911 sogar zum Großadmiral der Kaiserlichen Marine ernannt wurde, was sicherlich eine indirekte Folge der Geschäftsbeziehungen mit August Heldenreich war, lernte er diesen und seine Tochter, die Kaiserdeern, niemals persönlich kennen. War vielleicht auch besser so!
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