An diesem Silvesterabend war aber alles etwas anders. Heute gab es keine Sperrstunde! Man wollte ja in das neue Jahr hineinfeiern. Es stand sogar ein neues Jahrhundert bevor! Dachte man jedenfalls, denn genau genommen, begann das neue Jahrhundert ja nicht am 1. Januar 1900, sondern erst ein Jahr später. Das hatte der alte Dorfschullehrer Nils Hempelmann versucht, den Dörflern am Stammtisch einmal klarzumachen. Doch so richtig begriffen hatte das keiner, genauso wenig, warum 1901 das Zwanzigste Jahrhundert anfangen sollte, obwohl doch jeder sehen konnte, dass das Jahr mit einer „19“ begann. „Der Lehrer spinnt!“, dachten die Bauern, nur der Pastor Leverenz meinte, der Lehrer könnte wohl recht haben.
Der Kaufmann August Heldenreich gab ihm ebenfalls recht, denn der kannte sich schon von Berufs wegen mit der Rechnerei aus. Aber an diesem Silvesterabend 1899 spielte das alles keine Rolle. Man feierte in das neue Jahrhundert hinein, weil man das überall so machte.
Zu diesem Anlass waren ausnahmsweise auch die Damen des Ortes, die sonst zu Hause geduldig auf ihre Männer warteten, im Roten Hahn versammelt. Der Wirt hatte die Gaststube mit einigen Girlanden geschmückt, ein frisches Fass Bier angestochen und für die Damen einige Flaschen Aprikosenlikör bereitgestellt. Sicherheitshalber hielt er für Mitternacht auch noch einen Kasten Schaumwein, den er großzügig als „Schampus“ bezeichnete, bereit.
Bier und Schnaps flossen reichlicher als an gewöhnlichen Tagen durch die Kehlen, die Damen hielten sich etwas zurück, doch wurde die Stimmung immer fröhlicher und vor allem immer lauter.
Nur einer konnte sich nicht so richtig auf die Feier konzentrieren. Es war August Heldenreich, der ohne Frau gekommen war.
August Heldenreich hieß eigentlich Karl Heinrich Hermann, genannt August, Heldenreich. Ja, das „genannt August“ gehörte wirklich zu seinem behördlich eingetragenen Vornamen. Das hatte auch seinen Grund: Er war der Sohn des Landwirtes Hinz Heldenreich, der seinem Namen viel Ehre machte und innerhalb von sechs Jahren gleich vier Helden zeugte. Was tat man nicht alles für Kaiser und Vaterland! August war der jüngste Sohn, der wie seine Brüder die gleichen Taufpaten hatte. Das waren die drei Brüder seines Vaters Karl, Heinrich und Hermann Heldenreich. Alle drei gaben ihre Namen an die jungen Helden weiter. So kam es, dass alle vier Knaben die Vornamen Karl Heinrich Hermann bekamen. Das war bei den ersten drei kein Problem, denn sie wurden Karl Heldenreich, Heinrich Heldenreich und Hermann Heldenreich genannt. Nur bei dem Jüngsten wurde es problematischer. Es blieb kein Rufname für ihn übrig. So nannte man ihn einfach „August“, obwohl er Karl Heinrich Hermann hieß. Das ganze Dorf nannte ihn so, und er selbst hörte von Kindesbeinen an auch nur auf den Namen August, bis er seine Frau Wilhelmine ehelichen wollte und dem Bürgermeister Brödermann, der zugleich Standesbeamter war, seinen Taufschein vorlegte. Der fand sofort das Haar in der Suppe, aber nicht den Vornamen August. „So geht das aber nicht, August!“, entschied er. „Du kannst nicht unter dem Namen August heiraten, wenn du ganz anders heißt!“
Da war guter Rat teuer. Jeder der drei anderen Namen hätte in dem kleinen Dorf unweigerlich zu Verwechslungen und Missverständnissen mit seinen Brüdern geführt. Da entschied Brödermann, den Zusatz „genannt August“ offiziell in seine Papiere einzufügen. Damit konnten alle Beteiligten leben.
Das war vor gut einem Jahr gewesen, und heute war Wilhelmines und August Heldenreichs großer Tag. Ein neuer Held wollte das Licht des Tages erblicken, auch wenn das in diesem Fall das Licht einer Petroleumlampe war.
Um Mittag hatten die Wehen begonnen, und die Nachbarin Emma Hibbel hatte Lisbeth gerufen. Die alte Hebamme war herbeigeeilt und hatte zunächst einmal August hinausgeworfen. „Mannsleute haben hier nichts zu suchen! Ihr habt euer Vergnügen gehabt, nun sind die Weiber dran!“, verkündete sie resolut und forderte heißes Wasser, saubere Tücher und eine Kanne Kaffee. Das konnte beim ersten Kind lange dauern!
August überließ das Feld also den drei Frauen, verzog sich in den Roten Hahn und freute sich schon auf seinen Helden. Ein bisschen Sorge hatte er natürlich auch um Wilhelmine, denn eine Geburt war immer mit einer gewissen Gefahr verbunden.
„Eine Runde auf Wilhelmine und meinen Sohn!“, verkündete er lauthals am Stammtisch.
„Und wenn es doch eine Deern wird?“, wandte Pastor Leverenz ein.
„Das wird kein Mädchen! In meiner Familie sind bisher immer nur Helden gezeugt worden. Das hängt mit meinen Erbanlagen zusammen!“, erwiderte August. Davon war er überzeugt.
Inzwischen widmete sich Lisbeth zu Hause dem Kaffee, während Wilhelmine in immer kürzeren Abständen ihre Wehen spürte. Lisbeth kramte unter ihren vielen Unterröcken eine Taschenuhr hervor und legte sie demonstrativ auf den Nachtschrank. „Das wird heute noch!“, stellte sie fest. „Das letzte Baby in diesem Jahrhundert!“ Die Uhr zeigte kurz nach 11 Uhr. Noch fast eine Stunde bis zum Jahreswechsel. Der Lehrer Hempelmann hätte sicherlich wegen des neuen Jahrhunderts protestiert, wenn er denn da gewesen wäre, doch er befand sich gerade in einem Streitgespräch im Roten Hahn und bekam deshalb nichts von Lisbeths Bemerkung mit.
Diese hatte nicht ohne Grund ihre Uhr aus den Unterröcken hervorgekramt, denn bei der heutigen Geburt war die Uhrzeit besonders wichtig. Kaiser Wilhelm der Zweite hatte schon vor einem Monat im ganzen Reich verkünden lassen, dass er für das erste im neuen Jahrhundert geborene Kind persönlich die Patenschaft übernehmen wolle, sofern es ein Knabe wäre. Sollte es aber ein Mädchen werden, würde er ein Goldstück spendieren, immerhin im Werte von 20 Mark.
Nun hoffte August, dass sich sein kleiner Held noch bis ins neue Jahr Zeit lassen würde. Dann hätte er Chancen auf die kaiserliche Patenschaft. Das wäre ein guter Start ins Leben.
In diesem Moment ging es im Hause des Kaufmanns aber richtig los. Die Wehen folgten jetzt in immer kürzeren Abständen, und Lisbeth schaute erneut auf die Uhr. Bis Mitternacht war jetzt nicht mehr viel Zeit. Doch gerade als Emma Hibbel mit einem neuen Stapel Tücher herbeieilte, hörte sie die Turmglocke läuten. Erschrocken blieb sie stehen und zählte die Schläge mit. „Es ist Mitternacht!“, stellte sie fest.
„Unsinn!“, widersprach Lisbeth mit einem Blick auf ihre Taschenuhr. „Noch fünf Minuten! Nun komm schon! Das Kind will raus!“
Doch die Nachbarin blieb erstarrt stehen und zählte mit: „Zehn, elf, zwölf!“ – Wilhelmine stieß einen schrillen Schrei aus, der in einem langen Aufatmen endete. Mit beherztem Griff hatte Lisbeth zugepackt, und im nächsten Moment meldete der kleine Erdenbürger sein Dasein an. Es war geschafft!
Emma Hibbel hielt Lisbeth eines der Tücher hin, und diese schaute erst kritisch auf das Kind, dann auf die Uhr auf dem Nachtschrank. „Na also!“, stellte sie fest. „Kurz vor Mitternacht!“
„Es hat aber schon 12 geschlagen!“, wand Emma ein.
„Die Kirchturmuhr geht falsch!“, wehrte Lisbeth ungehalten ab. „Hier gilt nur meine Uhr, und die zeigt zwei Minuten vor zwölf. Geburtstag ist also der 31. Dezember 1899! Schluss damit!“
„Was ist es denn?“, wollte die Nachbarin wissen.
„Na, was soll es schon sein!“
Mit wehenden Röcken eilte die Hibbel zum Roten Hahn, um die gute Nachricht dort sofort zu überbringen.
„Dein Kind ist da, August!“, rief sie in die Gaststube hinein, wo gerade die erste Welle „Prost Neujahr!“ auf ihrem Höhepunkt war. Und jetzt diese Nachricht!
„Mein Sohn ist da!“, tönte August laut, und als der Wirt auffordernd die nächste Kiste Schampus auf den Tresen stellte, schob August hinterher: „Schampus für alle!“
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