Ich war unzulänglich und meinem Leben nicht gewachsen.
Wem sollte ich schon ernsthaft helfen können?
Spielte er vielleicht auf meine Gabe der Hellsichtigkeit an, die ich von Geburt an mit mir herum schleppte?
Denn ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich bereits als Kind über die Gabe verfügte, die Aura von Tieren und Menschen zu sehen.
In meiner kindlichen Naivität und meinem unbedarften Leichtsinn hatte ich diesbezüglich aber auch ein ungebremstes Mitteilungsbedürfnis, und so kam es dann, dass mir das Vorhersehen gründlich verging.
Mein Vater hatte ein enorm großes selbst gebautes Aquarium, in dem heimische und exotische Fische ihr langweiliges Dasein fristeten.
Ich mochte es, weil mir die bunten Tiere gefielen und ich mich irgendwie mit ihnen verbunden fühlte. Ich beobachtete die Fische gerne und besah sie mir immer sehr genau, und dabei fiel mir dann eben auch eine Veränderung ihrer Aura auf, und so sah ich, wann einer der schillernden Wasserbewohner das Zeitliche segnen sollte. Was ich, gute Tochter, natürlich auch gleich meinem Vater mitteilte, damit er sich vielleicht nicht zu sehr erschrak, oder auch um sich darauf vorbereiten zu können.
Ich glotzte also in meinem noch nicht schulfähigen Alter ins Aquarium und verkündete laut: „Dieser Fisch stirbt bald!“ und zeigte mit meinen kleinen Fingern auf den Unglücksraben, der noch munter und ahnungslos umher schwamm. Spätestens zwei Tage danach trieb besagter Fisch Bauch oben im Aquarium. Mein Vater nahm mich natürlich erst überhaupt nicht ernst, aber nachdem das drei-, viermal passiert war, wurde es ihm wohl doch unheimlich.
Nur leider ging der Schuss nach hinten los, denn statt Anerkennung für meine außergewöhnlichen Fähigkeiten bekam ich eine ganz andere Botschaft mit auf den Weg. Mein Vater wurde nämlich fuchsteufelswild und verbot mir mit seinem strengsten Blick, mich noch einmal seinem Aquarium zu nähern, denn: „Du bringst ja meine ganzen Fische um!“
Zack! Das saß! Ich hatte einen regelrechten Schock.
Wie konnte er nur glauben, ich würde seine Fische töten?
Und so wurde aus meiner Gabe ein Fluch, und ich beschloss ganz tief drin in meinem kleinen missverstandenen Herzen, diese Begabung nie wieder anzuwenden, verschloss mein drittes Auge und kappte alle offenen Leitungen zu meiner intakten Wahrnehmung, und beschloss, nur noch das zu sehen, was auch alle anderen sahen, und mich nur noch darauf zu verlassen, was mir erzählt und gesagt wurde.
Damit war ich dann natürlich auch verlassen.
Denn dass dir fast die gesamte Menschheit nur Dreck und Lügen auftischt, das ist ja nicht unbedingt ein bestgehütetes Geheimnis.
Also tappte ich von da an in jede sich mir bietende Falle und verstrickte mich blauäugig in jedem Lügenmärchen, das mir vertraulich ins Ohr gewispert wurde.
Ich glaubte allen alles.
Erst als ich mit 20 von zu Hause auszog, kamen die verdrängten Fähigkeiten mit brachialer Gewalt wieder zurück.
Ich blinzelte rüber zu Gott, in der Hoffnung, er wäre vielleicht eine Erscheinung meiner kranken Phantasie, aber da saß er immer noch in voller Pracht.
Tief sah er mir in die Augen und nickte bekräftigend, als ob er sämtliche Gedankenvorgänge in meinem Kopf mitverfolgt hätte.
Na toll, herzlichen Dank!
„Spionierst du in meinem Kopf rum?“ fragte ich angesäuert.
Er grinste und sagte: „Ist nicht unbedingt nötig. Du hast eine ausgesprochen ausdrucksstarke Mimik.“
Schmunzelnd meinte er dann: “Aber, ja, ich habe tatsächlich in deinem Kopf herumspioniert, wie du es zu nennen beliebst.“
„Aha. Und weiter?“ wollte ich übellaunig wissen.
„Tja, wir werden uns etwas überlegen müssen. Was machst du denn normalerweise mit Klienten, wenn sie nicht mehr weiter wissen und keine Lust mehr auf ihr Leben haben?“
„Ich bin nicht im Dienst“, muckte ich auf.
Tatsächlich hatte ich mein Therapiezentrum für komplementäre Heilmethoden aufgegeben, weil ich völlig ausgebrannt war, nur um daraufhin einen kolossalen Bauchklatscher mit einer Firma für Unternehmensberatung hinzulegen.
Als dann vor drei Jahren meine Mutter starb, war ich überhaupt nicht mehr in der Lage irgendjemandem zu helfen, sondern hätte selbst dringend Hilfe gebraucht. Natürlich waren meine Freunde für mich da, aber es ist immer sehr schwierig, sich um jemanden zu kümmern, von dem man gewohnt ist, dass er keine Hilfe braucht. Aber sie taten ihr Bestes und langsam kam ich wieder auf die Beine.
Dann starben ein halbes Jahr später meine Großeltern, bei denen ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbrachte.
Nicht dass das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hatte ich vorher noch eine üble Auseinandersetzung mit ihnen.
Ich wollte so gerne ein paar organisatorische Dinge mit ihnen klären, wie Vollmacht, Patientenverfügung usw.
Sie verstanden das leider so, dass ich sie über den Tisch ziehen, ihnen ihr Geld abluchsen und nach ihrem Tod schnellstmöglich Haus und Hof verscheuern wollte.
Was überhaupt nicht in meiner Absicht lag, aber so kam es nun mal bei ihnen an, wie sich bei der Testamentseröffnung heraus stellte.
Die beiden lieben alten Leutchen hatten den Großteil ihres Grundbesitzes zwei windigen Erbschleichern vermacht, die im letzten Jahr vor ihrem Tod in einem kleinen alten Bauernhaus auf demselben Grundstück als ihre Mieter wohnten.
Die Erbschleicher hatten natürlich schnell kapiert, wo der Hammer hängt und sich wohnlich im Allerwertesten meiner Großeltern eingerichtet. Sie halfen dort und da, überschlugen sich förmlich vor Schleim triefender Freundlichkeit und hatten damit letztendlich Erfolg.
Meine Großeltern vermachten ihnen das kleine Haus und fast allen Grund, auf dem ich aufgewachsen war. Meine Eltern und Großeltern bewohnten gemeinsam ein großes Zweifamilienhaus, welches auf demselben Grundstück wie das kleine alte Bauernhaus stand, was bedeutete, dass mein Vater keinen Garten mehr hatte, nachdem nun alles den beiden Erbschleichern gehörte.
Aufgrund all dieser Vorkommnisse hatte ich noch nicht wieder mit meinem Praxisbetrieb angefangen und wusste ehrlich gesagt auch überhaupt nicht, ob ich das noch wollte.
Ich hatte mich bei einer Online-Beratungsseite beworben, aber noch keine Zusage.
Also betrachtete ich Gott von der Seite und meinte: „Ich bin vielleicht etwas aus der Übung.“
Er sah mich lächelnd an: „Maria, du hast eine Gabe, dazu braucht man keine Übung. Leg einfach los!“
Jetzt war es an mir, zu lachen.
Gott sagte zu mir „leg einfach los“. Das war wirklich göttlich.
„Nun, um ehrlich zu sein, habe ich im Moment den Kopf so dermaßen mit meinen eigenen Problemen voll, dass ich gar nicht weiß, wie und ob ich dir helfen kann.“
Ich dachte, lieber mal ehrlich sein, weil wenn er wieder in meinem Hirn rumschnüffelt, kriegt er es ja sowieso raus.
Völlig entspannt saß Gott da, die Beine überkreuzt, die Finger aneinander gelegt, sah mich mit seinen gütigen Augen an und sagte: „Ich weiß.“
Daraufhin riss ich fragend die Achseln hoch, die Augen auf und streckte ihm meine offenen Handflächen entgegen.
Lächelnd meinte er: „Aber du kannst mir trotzdem helfen. Lass uns jeden Tag eine Sitzung abhalten oder ein Gespräch führen, wie du es auch nennen willst, und uns gegenseitig das Herz ausschütten.“
„Aber das ist doch keine Therapiesitzung, wenn ich dir auch meinen ganzen Kram aufs Auge drücke“, wagte ich einzuwenden.
„Nun ja“, Gott beugte sich vor, „wenn es dir besser geht, geht es mir automatisch auch besser.“
„Wieso das denn?“ wollte l ich fürbass erstaunt wissen.
„Mein Ansinnen ist es, dass alle Menschen glücklich sind und in Frieden miteinander leben.“
„Ha!“ begann ich zu gackern, „das soll wohl ein Witz sein? Wann, denkst du, wird das passieren? Wenn alle gleichzeitig im Lotto gewonnen haben und anschließend sofort in einen Dornröschenschlaf fallen, damit ihr Glück konserviert wird? Dann hättest du gute Chancen, aber ansonsten sehe ich da eher schwarz. Und ich bin wirklich keine alte Unke, sondern eine sehr positiv eingestellte Frau.“
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