Sie bekam sogar ihren Bruder wieder. Nach dessen Entlassung als Filmtechniker hatte sich Corries sechs Jahre älterer Bruder dem Handel gewidmet. Was es genau damit auf sich hatte, wusste niemand, aber fest stand, dass Jimmy nun Teil eines Hager Umfeldes geworden war, in dem sich Widerstand und Kollaborateure mischten. Es war eine Welt von Kurierdiensten, Geldtransporten und illegalen Transaktionen, wobei die Bezeichnung ‚illegal‘ sowohl anti-deutsch als anti-fiskal bedeuten konnte. Auf alle Fälle war Jimmy im Gefängnis in Scheveningen gelandet. Henk nahm Corrie mit in die Van Alkemadelaan , zum beeindruckenden Eingangstor zwischen den zwei hohen Türmen mit Zinnen wie aus dem Mittelalter. Zu Corries Verwunderung wurden sie begleitet von einem deutschen Offizier. Woher hatte Henk, der Widerstandskämpfer, deutsche Beziehungen? Reichten die Fäden der Illegalität über die Gefängniswärter bis in die Gänge des Gefängnisses?
Nach einer Weile kam Jimmy tatsächlich aus dem Eingangstor, sah aber nicht fröhlich aus. Im Gegenteil, Corrie hatte den Eindruck, dass er den Kopf schüttelte, als er sie ansah, wie um zu signalisieren, dass etwas nicht stimmte.
Jimmy durfte im Hause Boschzicht übernachten. Das war eine schöne und gastfreundliche Geste von Henk, die zu dem Eindruck passte, den Corrie von ihm hatte, denn Männer mit dem Herzen am rechten Fleck ließen Menschen mit Problemen nicht im Stich. Dennoch fiel es schwer, Jimmy von Henks Zuverlässigkeit zu überzeugen, und daraus machte er seiner jüngsten Schwester gegenüber auch keinen Hehl. Corrie mochte diesen Henk vielleicht vergöttern, aber für Jimmy, der im Handel schlauer und in der Zelle härter geworden war, war Vertrauen in seine Mitmenschen keineswegs selbstverständlich. Einigermaßen widerwillig erklärte er sich bereit, zusammen mit Corrie bei einer Sabotage-Aktion anwesend zu sein, mit der Henk zeigen wollte, dass man ihm durchaus trauen konnte. Sie beobachteten, wie der Baron irgendwo in der Nähe seines teuren Appartements eine Telefonzelle in die Luft jagte. Doch Jimmy zögerte auch nach dieser als Widerstandstat gemeinten Aktion. Diesem Freiherr-Baron mit seinen phantastischen Geschichten über Untergetauchte, der während seiner Besuche bei der Familie Den Held seine pro-englischen Standpunkte etwas zu laut äußerte, der ständig suggerierte, über Spionageangelegenheiten Bescheid zu wissen, traute Jimmy ganz und gar nicht.
Auch Corrie hatte so ihre Zweifel. Beispielsweise war es merkwürdig, dass deutsche Maßnahmen ihn nicht zu betreffen schienen. Henk ging einfach durch die Straßen, während sich andere erwachsene Männer ab 1943 für den Arbeitseinsatz zur Verfügung zu stellen hatten. Wer nicht in Deutschland arbeiten wollte, musste untertauchen. Für Henk schien das nicht zu gelten. Stimmte das denn? Na gut, er war gut in allem, also vermutlich auch darin. Alles deutete darauf hin, dass die Besatzung für ihn kein unerträglicher Zustand war, sondern eher ein Spiel, das er virtuos spielte. Er kenne wichtige Leute auf englischer und auf deutscher Seite, sagte er, und Corrie solle sich keine Sorgen darüber machen, was er mit seinen Beziehungen mache.
Corrie hatte nicht vor, sich Sorgen zu machen. Trotz einiger merkwürdiger Vorfälle genoss sie die aufregende Zeit im positiven Sinne des Wortes. Sie gingen Hand in Hand ins Kino, sie besuchten Cafés am Rembrandtplein in Amsterdam, sie segelten mit seinem Segelboot, und wenn sie an einem kühlen Herbsttag durchgefroren vom Wasser zurückkamen, zündete Henk den Kamin an, ließen sie sich einen guten Wein schmecken und konnte keiner ihnen etwas anhaben. Nie hatte sie einen eigenen Platz gehabt, und jetzt plötzlich gab es da einen einfühlsamen Mann, der sich um sie kümmerte, der sie in seinem Luxusappartement in die Arme nahm und ihr zärtliche Dinge sagte.
Was ihre Mutter nie getan hatte, tat Henk mit Hingabe. Er gab Corrie die Geborgenheit, nach der sie sich immer gesehnt hatte. Endlich wurde sie wahrgenommen.
Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Zumindest nicht für sie. Da nun aber eine Verabredung der anderen folgte und sie immer intimer miteinander wurden, er ihr Schmuck schenkte, sie aber dennoch der Meinung war, dass ihr nichts aufgedrängt wurde, dachte sie: „Wie unglaublich, dass so ein besonderer Mann so viel für mich übrig hat.“ Jeden Tag empfand sie mehr für ihn, sie konnte es nicht leugnen. Das Gefühl wuchs stetig, und nach einigen Monaten wurde es so schlimm, dass es fast weh tat. Ihr den Appetit raubte.
So unerreicht und stürmisch das Gemüt der jungen Corrie auch war, es war noch kein Grund, seinen ersten Heiratsantrag einfach anzunehmen. Sie wolle ihre Freiheit noch nicht aufgeben, sie könne sich immer noch binden, sie werde über seinen Antrag nachdenken, sagte sie.
Kurze Zeit später gab sie ihm dennoch ihr Jawort, und als Henk sie zur Straßenbahn brachte und sie beim Einsteigen kaum Zeit hatte zu antworten, fragte er sie, ob sie ihn noch immer heiraten würde, wenn sie wüsste, dass er pro-deutsch sei.
„Ich glaube kaum“, antwortete Corrie.
Kurz bevor die Straßenbahn abfuhr sagte Henk, dass solche Fragen keine Rolle spielen sollten. Nicht, wenn sie ihn wirklich liebe.
Eines Tages, sie würde es nie vergessen, hatten sie sich im Cineac Theater verabredet. Auch diesmal tagsüber, denn abends waren alle Theater und Kinos ab halb acht geschlossen. Sie wartete auf ihn und sah sich ein bisschen um, den großen Teich, die Reiterstatue, das streng bewachte Eingangstor der Parlamentsgebäude, als sie ihn von Weitem kommen sah. Er schien ein anderer Mensch zu sein. Natürlich war es Henk, kein Zweifel, denn sie erkannte seinen Regenmantel, der um seine schlanke Figur flatterte, und den Hut, den er immer trug. Er machte große Schritte, und Corrie dachte: „Diese Haltung kenne ich nicht. Er ist so unnahbar.“ Als er aber bemerkte, dass Corrie ihn kommen sah, war es, als hätte er plötzlich eine andere Persönlichkeit. Die Falten in seinem Gesicht glätteten sich, und er sah wieder aus, wie sie ihn kannte. Er lächelte ihr zu, und kurz darauf war alles wieder vertraut. Sie genossen die Vorstellung in vollen Zügen.
Sogar die Stadt Den Haag half dabei, Corrie noch verliebter zu machen, als sie schon war. An Henks Seite war es, als würde alles weicher, sicherer, als wäre er ihre Flucht aus den Problemen. Denn wenn man sich in Den Haag des Ausmaßes der Besatzung durch eine ausländische Macht nicht bewusst war, war man es nirgends. Den Haag war das Zentrum der deutschen Obrigkeit, der nationalen Führung und der Polizei. Der Sicherheitsdienst der Nazis hatte mehrere Gebäude im Binnenhof und dessen Umgebung konfisziert, und mehr als anderswo sah man deutsche Uniformen. Das führte zu stärkerem Widerstand, aber auch zu härteren Unterdrückungsmaßnahmen. Ganze Viertel waren entvölkert. Häuser, die von Juden oder anderen ‚unerwünschten‘ Elementen verlassen worden waren, wurden geplündert. Da Den Haag mit sechstausend Mitgliedern nach Amsterdam die größte jüdische Gemeinschaft des Landes beherbergte, waren die gelben Sterne im Straßenbild allgegenwärtig, und die NSB übte regelrechten Terror. Es gab Razzien, niederländische, vor allem aber deutsche. Die jüdische Synagoge in der Wagenstraat war bereits niedergebrannt worden, und an Schwimmbädern, Stränden, Märkten, Cafés, Restaurants und Parks standen Schilder mit der Aufschrift J U D E N V E R B O T E N.
Am Abend, wenn jegliche Form der Beleuchtung untersagt war, mutete Den Haag an wie eine Geisterstadt. Um den alliierten Bombern die Orientierung zu erschweren, musste es dunkel sein. Aber auch tagsüber hing ein Grauschleier über der altehrwürdigen Regierungsstadt. Da Scheveningen ein wichtiger Standort für die Küstenabwehr gegen eine mögliche Invasion der Engländer und Amerikaner war, war dort ein Haus nach dem anderen dem Erdboden gleichgemacht worden. Für den Atlantikwall wurde ein freier Gebietsstreifen von 350 Metern Breite geschaffen, der sich von Kijkduin im Südwesten bis in die Nähe von Wassenaar im Nordosten erstreckte und schließlich zum Strand abbog. Ganze Wohnviertel waren zum Sperrgebiet erklärt und deshalb geräumt worden. Tausende Wohnungen, Krankenhäuser, Kirchen und Vereinsgebäude wurden abgerissen, um den Anforderungen als Stützpunkt im Atlantikwall zu entsprechen, der von der skandinavischen Küste bis zur spanischen Grenze verlief.
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