Corries Mutter brachte ihren Kindern Manieren bei und betonte in der Erziehung die korrekte niederländische Aussprache, und immer waren Kitty, Willy, Jimmy und Corrie adrett gekleidet. Ansonsten tat sie sich schwer mit der Erziehung. Ihr Sohn, der offiziell Simon Willem hieß, von allen aber Jimmy genannt wurde, konnte sehr ungezogen sein, wie auch Kitty und Willy, die unter dem Namen Catharina Johanna und Wilhelmina getauft waren und zunächst Toosje und Mientje genannt wurden. Wenn sie aufeinander losgingen, mischte sich Corrie ein, denn dann brauchte ihre Mutter das nicht zu tun. Der Nachzügler konnte Streitereien nun mal nicht leiden, sie empfand all den Lärm als Last für ihre Mutter. Sie konnte sie nicht leiden sehen.
Cornelia Johanna den Held-Penters, geboren 1885 als Tochter einer Mutter aus Den Briel, war nach einer schlechten Ehe und dem Tod ihres Mannes eine verbitterte Frau. Nie schien sie Pläne machen zu können oder zu wollen, irgendetwas zu ändern, als wäre das Leben etwas, in dem man sich befand und das von allein vorbeigehen würde, wenn man nur lange genug wartete. Wie Corrie war auch sie früher das jüngste Kind gewesen, hieß ebenfalls Cornelia Johanna, war relativ klein gebaut und hatte ebenfalls zwei ältere Schwestern. Doch abgesehen von diesen Ähnlichkeiten hatte Corrie etwas, das ihr fehlte. Die Freude an der Begegnung. Wenn sie zusammen mit ihrer jüngsten Tochter in der Öffentlichkeit unterwegs war und kurz auf die Toilette musste, konnte sie sicher sein, dass Corrie danach nicht mehr allein war. Dann hatte sich mal wieder jemand angezogen gefühlt von der jungen Dame mit den schönen blauen Augen und dem verschämten und zugleich irgendwie einladenden Lächeln.
Als sie zwölf war, war es Corrie schon mal passiert, dass ein wildfremder Mann in Paris sie gefragt hatte, ob sie mit ihm kommen wolle. Damals, während der einzigen Auslandsreise in ihrer Jugend, hatte sie sich zu Tode erschrocken und nicht gewusst, wie sie sich verhalten soll. Doch so schockierend es war, passierte ihrer älteren Schwester Kitty so etwas nie. Kitty war nicht so hübsch wie Corrie, sie war größer und hatte nicht diese besondere Ausstrahlung. Auf sie hefteten sich keine Blicke, auf Corrie jedoch schon. Für Corrie war der Umgang mit anderen etwas Selbstverständliches.
Aus irgendwelchen Gründen schienen ihre Mutter und ihre älteste Schwester an einem Strang zu ziehen, wenn es darum ging, Corrie an der kurzen Leine zu halten. So rebellisch Kitty auch sein konnte, so widerborstig zu ihrer Mutter, waren sie sich in diesem Punkt offenbar einig. Kitty wurde immer das Beste und das Schönste gewährt. Wenn sie ein Geschenk bekam, war das etwas Schönes. Wenn Corrie etwas geschenkt bekam, konnte ihre Mutter so tun, als sei sie es gar nicht wert, überhaupt ein Geschenk zu bekommen. Die Bemerkungen schienen direkt aus den Märchen der Gebrüder Grimm zu stammen, aus einer Welt voller böser Stiefmütter, die ihren hübschesten Töchtern das neideten, was ihnen versagt worden war.
Auf dem Roller unterwegs zum Metzger überlegte Corrie, dass ihre Mutter sie sehr wohl liebte. Natürlich tat sie das, denn schließlich lieben alle Mütter ihre Kinder. Nur ihre konnte das eben nicht so zeigen.
Ihre zweitälteste Schwester Willy war meistens freundlich zu Corrie, ging aber ihre eigenen Wege. Und Jimmy war ein Junge, der viel Aufmerksamkeit brauchte und andere keineswegs unterstützen konnte. Er war ein ruheloses Kind und musste regelmäßig aus der Schule abgeholt werden, weil man mit ihm in geschlossenen Räumen nicht fertig wurde. Jimmy trieb sich viel auf der Straße herum. Um Corrie kümmerte sich niemand.
Als sie mit fünfzehn endlich im Zimmer von Kitty statt bei ihrer Mutter schlafen durfte, war ihr Bett lediglich ein altes Sofa mit Beulen und Huckeln. Es war nicht bequem, aber sie konnte schlafen, das war die Hauptsache. Die Unebenheiten ihres Bettes ertrug sie genau so leicht wie die Bemerkungen ihrer Mutter und die Bevorzugungen von Kitty. Auch wenn Corrie mit ihren Heften und Büchern im Wohnzimmer vor den Augen ihrer Mutter ihre Hausaufgaben machte, wurde sie nie abgefragt. Das war auch nicht nötig, denn das erledigte sie allein.
Sie war kein Kind, das meinte, dass es zu kurz kam. Gedanken an Freundinnen, die beim Tee gemütlich mit ihren Müttern plauderten, oder an ihren Vater, der ihr, wenn er noch gelebt hätte, vielleicht einen eigenen Platz im Haus gegönnt hätte, hatte sie nicht. Außerdem gab es genug fröhliche Augenblicke, wie sie fand. Da gab es jeden Tag die Abendmahlzeiten, die für Corrie immer wieder ein Höhepunkt waren. Alle Familienmitglieder am Tisch, das mochte sie, und dann erzählte sie von Erlebnissen in der Schule und mussten alle herzlich lachen. Und Mittags gab es das Radio. In den Dreißigerjahren war ein Radio eine kleine Sensation, und die Familie Den Held war mit der Anschaffung eines Apparates früh dran gewesen. Deshalb rannte Corrie um zwölf Uhr so schnell sie konnte nach Hause. Mit ein wenig Glück konnte sie The Ramblers lauschen, einem Orchester, das ein aus Amerika herübergekommenes Musikgenre spielte, das Jazz genannt wurde und in Corries Ohren sensationell klang. Irgendwo in den aufgeweckten Rhythmen und den schelmischen Trompetenklängen steckte etwas, dass sie kannte. Es war Lebensfreude, die Aufforderung, nach vorne zu blicken, morgen würde alles besser sein als heute. Und wenn sich das nicht bewahrheitete, konnte man seine Hoffnungen wieder auf den nächsten Tag richten.
Im Krieg zog die Familie um von Voorburg nach Wassenaar. Die Folge war, dass Corrie mit sechzehn Jahren die Schule wechseln musste. Die Schule, die sie die drei Jahre zuvor besucht hatte, war mehr als zehn Kilometer entfernt von dem Haus, in dem sie ab jetzt leben würden. Allein ging Corrie zur Schule auf der anderen Seite der Rijksstraatweg im Viertel Den Deyl . „Mein Name ist Corrie den Held“, sagte sie. „Ich möchte mich gerne anmelden.“ Sie hatte ihr Zeugnis dabei, um zu zeigen, dass sie versetzt worden war. So tauschte sie ihre alte Schule auf vertrautem Terrain – De Vliet , das von Weiden gesäumte Wasser zwischen Oude Rijn und daneben der Maas – gegen eine unbekannte Schule in einem anderen Ort. Dafür, dass sie alleine zur Anmeldung fahren musste, konnte ihre Mutter nichts, fand sie, denn die konnte nicht Fahrrad fahren.
Corrie verstand, dass ihre Mutter ihre Wohnung in der Schellinglaan nach der deutschen Invasion loswerden wollte. Am 10. Mai hatten direkt über Voorburg Kampfhandlungen stattgefunden. In den Feldern auf der anderen Seite von De Vliet waren Fallschirmjäger gelandet und an der Schießbahn der Bürgerwache, fünf Gehminuten von ihrem Haus entfernt, war ein englisches Flugzeug brennend abgestürzt. Die Familie Den Held hatte gezittert vor Furcht. „Was ist denn bloß los?“ hatte Corrie gefragt.
„Es ist Krieg“, lautete die Antwort.
Später an jenem Tag schlichen niederländische Soldaten entlang der Mäuerchen, auf denen Corrie so oft herumgehüpft war. Die Flugzeuge kamen immer wieder, und es schien, als würden die Sirenen nie verstummen. Auf der anderen Seite der Stelle, an der das englische Flugzeug als Flammenwolke niedergegangen war, wurde an einem verbarrikadierten Viadukt gekämpft. Und angesichts der Nähe zum Binnenhof mit dem Parlament und der Flugplätze Valkenburg und Ockenburg rechnete Corries Mutter auch nach der Kapitulation am 15. Mai mit Luftangriffen. Ihr Argument: „Eine einzige Bombe auf unser Haus, und wir verlieren alles, was wir haben.“ Das Haus verkaufen, den Erlös auf die Bank zu setzen und eine neue Wohnung zu mieten schien ihr die größere Sicherheit zu bieten.
Das Haus an der Schellinglaan wurde mit Verlust verkauft, aber in Wassenaar gab es ein Haus zu mieten, das groß genug war, um Zimmer untervermieten zu können. Es war großzügig, angenehm und zweckmäßig, und natürlich standesgemäß. Auch das war ein Ort mit anständigen Menschen, in dem der Schein gewahrt werden musste, dass die Familie Den Held dort hingehörte.
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