Es muss in seiner Anwesenheit angenehm gewesen sein. Corrie war gerne mit ihm zusammen, und obwohl manch anderer sich dazu nie bekannt hat, war sie gewiss nicht die einzige. Das Bild eines überführten Kriegsverbrechers als Bösewicht, Widerling oder kalten Phantasten ist nun mal eingängiger als das eines begeisternden Menschen mit schönen Initiativen. Ersteres wird in nahezu allen Zeugnissen aus der Nachkriegszeit betont, Letzteres kaum, eigentlich erst jetzt. Der kultivierte Eindruck, den Van der Waals ab ihrer ersten Begegnung auf Corrie machte, zeigt etwas von der Geschwindigkeit, mit der er sich von seinem einfachen Rotterdamer Umfeld gelöst hatte. Bis Mai 1940 hatte Van der Waals mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt. Nicht im Entferntesten war er der Erfinder geworden, der er gerne gewesen wäre. Sogar die Widerstandsbewegung hatte ihn abgelehnt. Doch in der deutschen Armee klappte plötzlich alles wie am Schnürchen, und im Sommer 1943, in seinem Zenit, begegnet er Corrie und gab sich reich, zuvorkommend und selbstsicher. Ein charmanter Kunst- und Weinkenner, eine angenehme und spannende Vaterfigur für ein vaterloses Mädchen, dem nie etwas geschenkt worden war.
Die glückliche Anfangszeit des sogenannten Widerstandskämpfers und seiner Liebsten war kein Einzelfall. Auf beiden Seiten der Demarkationslinie zwischen richtig und falsch, die nicht überall klar ersichtlich war, entwickelten sich viele Liebesbeziehungen. Sowohl Kollaborateure als auch Menschen im Widerstand genossen in vielen Fällen das freie Leben, das ihnen der Krieg bot. Mit Decknamen und geheimen Adressen taten sie Dinge, von denen niemand erfahren durfte. Die andere Seite nicht, aber auch nicht die Ehefrau. So gesehen hatte Anton van der Waals mehr mit den Widerstandskämpfern gemein als man aufgrund der offiziellen Geschichtsschreibung erwarten würde. Sein Pendant auf der vaterlandsliebenden Seite, der Künstler Gerrit Jan van de Veen, betrog seine Frau mit gleich mehreren Freundinnen. Auch der Gründer der Zeitschrift Vrij Nederland , Henk van Randwijk, hatte in dieser Grauzone eine Mätresse, wie auch der Widerstandskämpfer Koos Vorrink, ein einflussreicher Sozialdemokrat, der vehement auf Moral in guten und in schlechten Zeiten pochte. Wim Sanders vom Nachrichtendienst würde sich nach dem Krieg nie mehr so frei fühlen wie in der Zeit zwischen 1940 und 1946. Die Rückkehr in die gesellschaftlichen Schranken fiel ihm schwer, und vielleicht dachte er hin und wieder zurück an seine außereheliche Beziehung mit – was für ein Klischee – einer Kurierin.
Vor dem Sommer 1943 war Van der Waals bereits dreimal verheiratet gewesen und unter anderem wegen seiner Zügellosigkeit auch wieder geschieden. Er lebte das aufregende Leben eines Playboys, was einerseits aufgrund der Geheimhaltung möglich war, die auf beiden Seiten der Trennlinie notwendig war, um gut funktionieren zu können, und andererseits durch den Charme, von dem Van der Waals, wie sich herausgestellt hat, reichlich besaß. Die Kriegszeit hatte befreiende Aspekte für ihn, für Corrie und für unerschrockene Helden auf der richtigen Seite der Linie, die das Abenteuer suchten. Ehemalige Widerstandskämpfer sprachen im Nachhinein manchmal vor einer Indianerwelt, in der sie gelebt hätten. Wie Cowboys hatten sie sich aufgeführt, ohne Terminkalender und Versammlungen, nahezu ohne jegliche Struktur, und schon gar nicht unter gesellschaftlichem Zwang, wie manche von ihnen das empfanden.
Wenn ich eine Stunde keine unangenehmen Themen angeschnitten hatte, nannte Corrie ihr Leben während des Krieges spannend und abwechslungsreich. Diese Worte, die zunächst unpassend, doch angesichts der Umstände umso menschlicher klangen, bezogen sich auf beide Enden des Spektrums.
Was ihren Hintergrund anbelangt, ist Corrie während der Interviews besonders offen und mutig. In leisem, mildem Ton kommen die abscheulichen Geschichten über ihre Jugend zur Sprache. Geschichten von stillem Leid, die unzensiert im Aufnahmegerät verschwinden. Eine sehr merkwürdige Mutter hatte sie an der kurzen Leine gehalten, manchmal sogar erniedrigt. Für diese Mutter, Witwe, Tochter eines Handwerkers im Rotterdamer Hafen, schien alles zurückstehen zu müssen für ein Haus in Voorburg. Zu Hause drehte sich alles um den schönen Schein, und Corrie hatte das Nachsehen. Aber es war gerade jene Corrie, die den Ehrgeiz ihrer Mutter verstand, wie ein Aschenputtel in Kriegszeiten. Sie verließ das Elternhaus für einen reichen Baron mit internationalen Beziehungen, woraufhin ein Märchen seinen Anfang nahm, um in einem Albtraum zu enden.
Ihre Memoiren hat sie nie geschrieben. Sie war nicht in Therapie, um ihre Kriegsvergangenheit zu verarbeiten. Es wartet also keine fertige Erzählung auf mich. Es ist, als würde Corrie den Held mir die Erlaubnis erteilen, eine geheime Schublade zu öffnen und darin Erinnerungen zu finden, die sie schon seit Jahren nicht mehr zugelassen hat. Zusammen suchen wir nach einem roten Faden, der irgendwo sein muss, und meistens finden wir ihn auch, allerdings nicht immer. Sie hat unterschiedliche, nicht immer gleichlautende Erklärungen für ihr Verhalten. Das eine Mal hatte sie Angst wegzulaufen, und das andere Mal wollte sie einfach nur bei ihrem Mann bleiben. Er beschützte sie, er kümmerte sich um sie, sorgte für ihr Wohlergehen. Er nahm sie mit in die Welt der großen Leute. Aber sie war auch naiv und wusste nicht genau, was er alles tat. Sie war von ihm abhängig und sieht sich selbst rückblickend gerne als Spielball auf den Wellen. Die Mächte, von denen sie umgeben war, waren größer und stärker als sie. Dann nicke ich und denke: „Ja, so kann es gewesen sein.“
Während unserer Gespräche wundert es sie fast genauso wie mich, dass sie innerhalb so kurzer Zeit so vieles erlebt und durchgemacht hat, hohe Gipfel und tiefe Abgründe, Luxus und Vergnügen, bittere Armut und Einsamkeit, sogar Hunger. In solchen Augenblicken lässt sie ihre Hände im Schoß ruhen und seufzt. Eine Uhr tickt, ein Boot fährt vorbei. Dann: „Unglaublich, oder?“
Und später, wenn sie mich nach der Lektüre eines Kapitels anruft, folgt wieder so ein Moment des stillen Gleichmuts. „Ja, aber so war es!“ Mit einer fast verzweifelten Betonung auf das Wörtchen ‚war‘, als ob sie sich entschuldigen möchte. Sie selbst kann auch nichts dafür. Manche Passagen würde sie gerne anders sehen, doch ihr ist klar, dass es kein Entrinnen gibt. Zehn Kapitel, zehn Mal dieselben Worte: So war es wirklich. Gefolgt von der Frage, wann das nächste Kapitel fertig sein wird, denn das konnte sie immer kaum erwarten. Jeden Morgen ging sie in der Hoffnung auf einen großen weißen Umschlag zum Briefkasten, um dann meistens enttäuscht zurückzugehen ins Wohnzimmer, wenn keiner da war. Sie will da durch. Sie ist der Meinung, dass sie da nochmal durch muss, als ob sie als Überlebende eines Höllenritts alle Kurven nochmal genau in Augenschein nehmen möchte. Und dann das Kopfschütteln darüber, dass sie diese Kurven tatsächlich genommen hat, mit genau der Geschwindigkeit und genau den Risiken…
Wir reisen durch die Niederlande und besuchen die Orte, an denen sie mit Van der Waals alias ‚Henk‘ gelebt hat. Wir klingeln bei einer Freundin aus jener Zeit und trinken Tee. Beim Abschied sagt Corrie zu ihr: „Dennoch bereue ich nichts.“ Die Augen ihrer früheren Freundin sagen etwas anderes.
Corrie hat allem und jedem verziehen, auch sich selbst. Die Dinge sind geschehen, und jetzt soll es auch Schwarz auf Weiß erscheinen. Denn, und das sagte sie schon während unseres ersten Gesprächs, sie wisse nur zu genau: „Ich habe in einem Film gelebt.“ Die Frage, ob viele Menschen das Buch zur Kenntnis nehmen werden, beschäftigt sie nicht. Es war nie ihre Absicht, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Niemand braucht zu wissen, wo sie wohnt, wie sie jetzt heißt oder wie sie aussieht. Wiedererkennung auf der Straße könnte unerwartete Fragen aufwerfen, und die möchte sie auch nach zehn Kapiteln, in denen ihre Vergangenheit einigermaßen geordnet ist, am liebsten vermeiden. Eine Handvoll Leser wäre schön. Ihr ist aber wichtiger, dass ihre Töchter Peggy, Joyce und Lucy endlich verstehen, was sie durchgemacht hat.
Читать дальше