"Also lautet meine nächstmögliche Station wohl Angelswin, hm?'' seufzte Felina. "Denn wenn ich überhaupt einen Anhaltspunkt habe, so unwahrscheinlich er auch sein mag, dann sollte ich ihn auch nutzen. Das ist immerhin besser als nichts.''
Yalia nickte. "Wenn das alles hier vorbei ist, will mein Onkel auch wieder zurück nach Angelswin. Du kannst ja gern mitkommen, wenn du magst.''
So vergingen die Tage, und noch immer warteten alle auf die Ankunft des Menschen und seiner Gruppe.
Immer tiefer kletterten der Räuberhauptmann, die beiden Kolosse und Fenrir nach unten in den Nebel hinab, während die anderen oben am Rand standen und ihre Freunde schon lange nicht mehr sahen. Man hatte es für besser gehalten, die stärksten Männer nach unten zu schicken, da niemand wusste, was für einen Körper es anzuheben galt. In der halben Stunde, die die vier jetzt bereits an der Felswand hingen, war nirgendwo etwas zu erkennen gewesen. Doch schon gute zehn Minuten später bildeten sich unter ihnen im Nebel gewaltige Konturen ab. Den enormen Walkörper, der dort eingeklemmt zwischen den massiven Felsen lag, erspähte Gumbol als Erster, und er begann beinahe zu weinen, so sehr nahm ihn dieser Anblick mit. Darum war sein Blick auch zu verwischt, und Fenrir, der als nächster kam, sah die Absonderlichkeit dieses Wesens. Zwar sah es aus wie ein Buckelwal, doch anstatt den üblichen Flossen wuchsen Beine, denen eines überdimensionalen Dackels sehr ähnlich, aus seinem Bauchbereich. Große, braune Buckel waren warzengleich über den gesamten Rücken verstreut, und zuerst nahm keiner der vier Kletterer wahr, was den Wal eigentlich so schmerzte. Dieser begann plötzlich zu sprechen, und sofort war klar, dass von ihm die Stimme aus der Tiefe gekommen war.
"Ah, endlich jemand, der mir helfen möchte.'' Seine gewaltigen, tiefschwarzen Augen blickten kreisend an der Wand entlang. "Nehmt mir diese Last bitte herunter.''
Yhildrat näherte sich dem glatten Körper und besah sich die Sache genauer. Dann kramte er seinen höflichsten Tonfall heraus.
"Erzählt mir, mein Freund, was Ihr seid und wie Ihr in diese missliche Lage gekommen seid. Und im Übrigen sehe ich nichts, wovon Ihr zu befreien wäret.''
"Ich bin ein Steinwal, und dieses Gebirge ist meine Heimat. Wir schlafen gerne in engen Höhlen tief in den Bergen, doch vor einiger Zeit wurde die Decke meiner Höhle zerstört. Da wurde ich wütend, und nun sauge ich nachts jeden ein, der über meinen Schlafplatz will. Nur tagsüber finde ich Ruhe. Misslich ist meine Lage nicht, weil ich hier unten liege. Nein, das ist sie deswegen, weil ich jetzt schon zweimal aus meinem Tagesschlaf gestört wurde. Es dauert leider noch einige Zeit, bis die Decke wieder zuwächst. Solange werde ich wohl öfter mit Störungen zu rechnen haben. Und der zweite Störenfried fühlt sich an, als wiege er viele Tonnen. Er liegt auf meinem Rücken, bitte nehmt ihn runter, damit ich mich ausruhen kann.''
"Ich dachte, Wale halten sich nur im Meer auf. Von deiner Gattung habe ich noch nie etwas gehört. Und was ist mit dem ersten Störenfried passiert?'' wollte Gumbol, der starke Tierfreund, wissen.
"Wir Steinwale leben, seit ich denken kann, in den Gebirgen Bunyarbas. Wir wandern auf ihnen umher, fressen hier und da ein paar Felsenziegen, und jagen die Riesen, wenn sie vorbeikommen. Ich habe einen Onkel, der lebt wirklich im Meer. Allerdings ist das weit entfernt von hier, weshalb ich ihn selten sehe. Tja, und die erste Störung kam von so einem haarigen Ungetüm. War vom Volk der Werwölfe, schätze ich mal. Er blutete stark, aber als er von oben herabfiel, sprang er direkt von meinem Rücken auf die Felsen und begann, nach oben zu steigen. Wie er das aushielt, weiß ich auch nicht. Dann wurde er ohnmächtig, und landete wieder auf mir. Ich schaute mir das Schauspiel eine Weile an, bis er schließlich aufgab und sich hinlegte. Am nächsten Tag versuchte er es wieder, und als es wieder nicht klappte, befühlte er seinen Kopf, zog sich den Pfeil aus seiner Schläfe, wobei mehr Blut sprudelte, und legte sich wieder schlafen. Einen Tag später sah ich dann nur noch, wie er oben im Nebel verschwand. Hat kein Wort gesprochen, der Kerl. Und seit zwei Tagen liegt jetzt dieser Brocken auf mir, und ich bekomme kein Auge mehr zu. Jetzt nehmt ihn aber bitte runter von mir.''
Und so stiegen die vier auf den Rücken des Wals und suchten nach dem Körper. Die Buckel waren groß, sie sahen aus wie Schildkrötenpanzer oder braune Steine. Etwa in der Mitte des langen Leibes wurden sie dann endlich fündig. Zu ihrem Erstaunen erkannte jeder sofort die Herkunft des Körpers, denn sie alle hatten schon von den Kiesleuten gehört. Die Kiesleute, das Volk der Steine, war eines der ältesten Völker von Bunyarba. Der Steinwal hatte nicht gelogen, als er meinte, der Körper würde Tonnen wiegen. Dieser braune Riesenfels lag zwischen den Buckeln und rührte sich keinen Meter. Kiesleute konnten ewig schlafen, denn sie hatten Zeit. Er sah wirklich wie ein Fels aus, nur sein beständiges Auf und Ab beim Atmen enttarnte ihn. Fenrir ging nahe an das Gebilde heran und stupste es mit dem Fuß an.
"Entschuldige, Steinschädel, aber du bist hier fehl am Platze, wenn du ein Nickerchen halten willst.''
Der Brocken regte sich, und Sekunden später stand ein wuchtiger Felsenmann vor ihnen. Er überragte selbst Fenrir, und sein Äußeres glich dem einer Schildkröte mit muskelbepackten Armen und Beinen, nur dass die Muskeln abgeschliffene Steinklumpen waren. Sein Gesicht war eine Furchenlandschaft und die Augen wirkten wie die Ausschnitte einer Wiese, so grün leuchteten sie den Vieren entgegen. Als er noch gelegen hatte, war nicht mehr als ein Felsbrocken mit vielen kleineren Steinen drum herum zu sehen gewesen. Jetzt aber waren die kleinen Steinchen als kräftige Finger zu identifizieren, die womöglich jeden Feind zerdrücken konnten. Kiesleute waren kein jähzorniges Volk, auch kannten sie keine Rachegelüste in bestimmten Situationen. Beleidigungen empfanden sie als wertlos, da es nur Worte waren und Worte allgemein als vergänglich betrachtet wurden. So machte er sich nichts aus dem Kommentar des Soliden, der hier vor ihm stand. Auch dass dessen Volk schon viele seiner Artgenossen getötet hatte, aus Versehen natürlich, ließ ihn kalt. Kiesleute lebten nun einmal mit dem Risiko, für Steine gehalten zu werden. Dieser Brocken war bei seinem Spaziergang unvorsichtig gewesen und in die Kluft gefallen. Im Fall war er dann eingeschlafen und auf dem weichen, nachgiebigen Walkörper gelandet. Und nun standen hier vier ihm völlig Fremde und wagten es, ihn zu wecken. Seine Stimme klang schwer und arrogant, wie bei allen Felsenmännern.
"Wenn die Frage erlaubt sein darf, würde ich gern wissen, warum meine Ruhe gestört wird.''
Während Yhildrat es wieder einmal mit der Angst zu tun bekam, ging Fenrir etwas näher auf den Steinmann zu.
"Entschuldige bitte, aber der Wal, auf dem du gelandet bist, beklagt sich darüber, dass du auf seinem Rücken liegst. Er möchte gerne weiterschlafen, und wir werden erst über die Kluft gelassen, wenn du fort bist.''
Da erklang die Stimme des Wals: "Davon habe ich nie etwas gesagt, ich wollte nur, dass dieser Brocken endlich von mir runterkommt!''
Der Felsenmann erwiderte: "Das ist mal wieder typisch für euch Steinwale! An euch selbst denken, das könnt ihr meisterhaft, aber anderen helfen ist nicht drin?''
"Halt dich doch geschlossen, du elender Klumpen Staub! Bestimmt habe ich es euren kindischen Spielen zu verdanken, dass meine Schlafhöhle kaputt ist. Und mit der Reparatur strengt ihr euch auch nicht genügend an!''
"Das reicht! Ich werde mir nicht diese Anschuldigungen gefallen lassen! Nein, mein Herr, ich nicht!''
Und er stampfte mit einem Fuß so hart auf, dass der Steinwal sein ohrenbetäubendes Heulen losließ und alle oberhalb des Nebels aufschreckten. Der Brocken sah die Vier an.
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