Seine Stimme verlor sich im Füßescharren der Auswanderer. Karl Siebrecht atmete auf – es wäre ihm doch nicht angenehm gewesen, hier vor allen Kollegen ... Übrigens hatte er in der Gruppe der Besucher sehr wohl den Herrn von Senden gesehen, dem hätte er gern guten Tag gesagt, aber es hatte sich wirklich nicht so gemacht. Auch die anderen Zeichner atmeten auf: je seltener der Chef kommt, um so gefürchteter ist er, um so leichter schlug jetzt wieder das Herz. Sie steckten die Köpfe zusammen, das Wort von den »Malersch« kursierte. Einige grinsten dazu, andere waren empört, vor allem Herr Feistlein. Oberingenieur Hartleben ging unermüdlich den langen Gang auf und ab, er sorgte dafür, daß allmählich wieder Ruhe wurde. Karl Siebrecht saß schon längst an seinem Zeichentisch, die Reißschiene klapperte, mit einem sanften Schnurren glitt die Reißfeder um das Kurvenlineal. Hinter ihm, über seine Schulter, sagte der Oberingenieur Hartleben: »Das war unser Chef, Karl. Kanntest du ihn schon?«
»Doch, ich habe ihn schon mal gesehen«, antwortete der Junge, ohne hochzublicken.
»Da regen sie sich künstlich auf«, sagte der Oberingenieur immer in seinem Rücken, »weil er sie ›Malersch?‹genannt hat, wo sie doch Zeichner sind. Sie sind empört, daß er ihre Arbeit nicht richtig würdigt. Aber keiner zieht die Konsequenzen und geht. Auch ich nicht. Verstehst du das, Karl? Es müßte dich eigentlich empören.«
»Jeder hängt an seinem Brot«, sagte Karl Siebrecht und blies sanft auf die Zeichnung, damit die Tusche schneller trocknete. »Auch ich hätte gerade jetzt meinen Posten ungern verloren.«
»Wir sagen alle immer ›gerade jetzt‹, Karl! Wir sind alle feige. Wir sind ein feiges Geschlecht geworden«, rief der Oberingenieur bitter.
»Gerade hier in Berlin habe ich das nicht gefunden«, antwortete Karl Siebrecht und dachte an Rieke Busch. »Ich finde, die Leute sind hier unglaublich zäh und mutig.«
»Und hast dich doch im dunklen Schrankwinkel versteckt, Karl!« sagte eine andere, etwas schleppende, etwas näselnde Stimme hinter ihm. »Ich habe dich wohl gesehen.«
Karl Siebrecht sprang auf. Sein Ärmel verwischte die noch nicht trockene Tusche, aber das sah er jetzt noch nicht. »Herr von Senden!« rief er und freute sich. »Ich habe Sie auch gesehen. Ich freu mich ...«
»Siehst du, Karl, das ist hübsch von dir«, meinte der Rittmeister, »und am hübschesten finde ich es, daß man dir deine Freude deutlich am Gesicht abliest. Die sitzen oben in ihrer Finanzabteilung und essen Kaviarbrötchen, wir können ruhig ein Wort miteinander plaudern. Wie gefällt es dir denn hier? Aber zuerst muß ich wohl den Herrn Oberingenieur Hartleben fragen, wie du ihm gefällst?«
»Er macht sich, er macht sich«, sagte der Oberingenieur lächelnd. »Seinen Jahren entsprechend, leistet er genug.«
»Nun, das freut mich zu hören«, meinte der Rittmeister. »Übrigens habe ich nie daran gezweifelt.«
Er hatte sich auf Karl Siebrechts Stuhl gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Heute trug er zart himbeerfarbene Socken mit einem purpurnen Zwickel. Karl Siebrecht sah es sofort. Herr von Senden zog ein goldenes Zigarrettenetui aus der Tasche und bot es dem Oberingenieur, der mit einem Hinweis auf die strenge Ordnung der Zeichenstube ablehnte. Der Rittmeister aber nahm sich eine. »Ich will es riskieren«, sagte er. »Ich bin zwar nur stiller Teilhaber der Firma, sehr stiller sogar, aber immerhin ...« Nun brannte die Zigarette, und Herr von Senden wandte sich wieder an Karl. »Übrigens dachte ich gar nicht mehr, dich hier vorzufinden. Vor ein paar Tagen hatte ich abends eine Vision von einem Jungen, der dir glich wie ein Ei dem anderen. Dein Doppelgänger saß auf einem Dreirad und schob vor sich einen wahren Berg von Paketen her. Der bist du also nun doch nicht gewesen.«
»Doch, der bin ich auch gewesen!« sagte Karl Siebrecht und wurde ein wenig rot. Vor dem Rittmeister machte es ihm nichts aus, aber der Oberingenieur hätte es nicht zu wissen brauchen.
»War das nur so per Zufall«, fragte der Rittmeister weiter, »oder ist das eine Dauerbetätigung bei dir?« Er sah dabei nicht Karl, er sah die Asche seiner Zigarette an. Dann stippte er sie mit einem langen rosigen Fingernagel ab.
»Vorläufig mache ich das alle Abende«, sagte der Junge.
»Wegen Geld?« erkundigte sich der Rittmeister immer weiter.
»Auch!« antwortete der Junge immer wortkarger. Jetzt wußte er wieder, was er an dem Rittmeister auszusetzen hatte: der Mann war ein Bohrer. Er zerfaserte alles, schließlich blieb einem gar nichts Festes mehr in den Händen.
»Aber«, fragte der Rittmeister erstaunt, »sollte sich da nicht eine etwas würdigere und einträglichere Beschäftigung für dich finden lassen? Botenjunge auf einem Dreirad! Sicher hat Herr Hartleben dann und wann Überarbeit zu vergeben, die nicht schlecht bezahlt wird – nicht wahr, Herr Hartleben?« Der nickte.
Der Junge überlegte einen Augenblick, dann stürzte er sich kopfüber in seine Antwort. »Aber«, rief er, »ich will gar keine andere Arbeit! Die gefällt mir, das finde ich gerade so schön in Berlin, daß man hier tun und lassen kann, was man will! Daß keiner nach einem fragt! Warum ist denn das unwürdig, Botenjunge zu sein? Warum ist es würdiger, Zeichnungen zu machen? Ich versteh das nicht, und der richtige Berliner, soweit kenne ich Berlin auch schon, versteht das auch nicht. Wissen Sie, Herr Rittmeister, wie mir ein Mann das erste Trinkgeld in die Hand gedrückt hat, da habe ich gezuckt. Da hat er zu mir gesagt: ›Bist du zu fein, Geld zu verdienen? Da biste wohl auch zu fein, Brot zu essen?‹ – Sehen Sie, Herr Rittmeister, das war ein richtiger Berliner – der hat recht! Das ist das einzig Unwürdige: Brot zu essen, das man nicht verdient hat! – Verzeihen Sie, Herr Rittmeister, Sie habe ich natürlich nicht damit gemeint!«
Der Herr von Senden hatte ein wenig von seiner überlegenen Blasiertheit eingebüßt bei diesem jugendlich feurigen Ausbruch. Herr Oberingenieur Hartleben machte mit den Armen runde, beschwichtigende Bewegungen, als scheuche er ein Huhn vor sich her. Dem Jungen kamen beide Herren unsäglich komisch vor in ihrer Bestürzung – er mußte lächeln. Aber das Lächeln verging ihm, als eine fette, schleppende Stimme sagte: »Ach, Schwager, würdest du nicht einen Augenblick raufkommen und ein paar Worte mit dem Oberbaurat reden? Er macht nun doch Schwierigkeiten wegen der Bauerlaubnis. Nanu, wer ist denn das?«
Der Herr Kalubrigkeit mochte vom Bauzeichnen nichts verstehen und von der ganzen Bauerei wenig. Aber Menschenkenntnis hatte er, und ein Gesicht, das er einmal gesehen hatte, vergaß er so leicht nicht wieder. Er hatte einen von Koksstaub geschwärzten Karl Siebrecht gekannt, und nun sah er einen sauber gewaschenen Jüngling mit hohem Stehkragen, aber das konnte ihn nicht einen Augenblick irreführen. »Das ist ja der Kerl aus Pankow!« schrie Herr Kalubrigkeit, und seine Stimme wurde gellend. »Das ist ja der rote Hetzer, den ich vom Bau geschmissen habe! Das ist ja der Lump, der meinen Koks und mein Holz verschenkt, das ist der Kerl, der mir meinen Polier abspenstig machen wollte, der mir tausend Schwierigkeiten mit diesen Trockenmietern gemacht hat! – Was machen Sie denn hier –?!« Jetzt rückte der Kalubrigkeit dem Siebrecht direkt auf den Leib, und wie es sich gehört, wurde er dabei immer intimer. »Was hast du auf meiner Zeichenstube zu suchen?! Willst du etwa meine Maler aufhetzen, du Anarchist, du –?!«
»Einen Augenblick bitte, Schwager«, ließ sich Herr von Senden vernehmen, aber seine Stimme klang nur schwach gegen das Gebrüll des Selfmademannes.
»Keinen Augenblick, Schwager! Machst du, daß du von meinem Büro kommst, du Lümmel, du?! Auf der Stelle verschwindest du, oder ich lasse dich wegen Hausfriedensbruchs einstecken! Ich zähle bis drei – und wenn du dann nicht fort bist –! Eins – zwei – drei –!«
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