Peter Schellenbaum äußert sich zur Individuation oder Selbstfindung wie folgt:
„Nur wenn ein Mensch seine animalische Unbewusstheit und seine Sehnsucht nach passiver Geborgenheit bei der nährenden Mutter und seine Angst vor Tod und Wandlung überwindet, entdeckt er das für ihn Wertvollste, nämlich seine Individualität. Dann kann er sich mit bisher unbewussten Teilen seiner selbst, vor allem mit seiner gegengeschlechtlichen Seite bewusst verbinden. Der Mann bezieht jetzt auch weibliche Werte in sein Leben ein, wie die Fähigkeit hinzuhören, aufzunehmen, sich einzufühlen, Geborgenheit zu schenken, und die Frau umgekehrt auch männliche Werte, wie die Fähigkeit zur Abgrenzung, Auseinandersetzung, zum aktiven Eindringen in neue Bereiche … Wichtig allein ist das Prinzip der Gegensatzvereinigung: Bisher Ungelebtes wird ins eigene Leben einbezogen.“ (7)
Oder: „Wer sich mit seiner Anlage nicht versöhnt, verzehrt sein Leben in ungesunder Eile. Das eigene Leben muss sich im Wesentlichen ungehemmt von Katarakt zu Katarakt als fließender Augenblick ergießen können. Wenn sich die Anlage jedoch nur als Gegenimpuls sporadisch durchsetzen kann, fehlt ihr die Kontinuität, die Selbstverständlichkeit, die das ganze Dasein durchflutende Wärme und Helligkeit.“ (8)
Zudem ist bereits bei C. G. Jung der Begriff der Selbstverwirklichung eng an das Symbol des Kindes gebunden. C. G. Jung sagt dazu folgendes: „Es (das Kind, Anmerkung I. W.) stellt den stärksten und unvermeidlichsten Drang des Wesens dar, nämlich sich selbst zu verwirklichen. Es ist ein mit allen natürlichen Instinktkräften ausgerüstetes Nichtanderskönnen, während das Bewusstsein sich stets in einem vermeintlichen Anderskönnen verfängt. Der Drang und Zwang zur Selbstverwirklichung ist Naturgesetzlichkeit und daher von unüberwindlicher Kraft, auch wenn der Beginn ihrer Wirkung zunächst unansehnlich und unwahrscheinlich ist.“ (9)
Bei Peter Schellenbaum sind die Begriffe Selbstverwirklichung und Existenzieller Moment der Empfängnis ebenfalls eng an das Symbol des Kinderarchetyps gebunden. Dazu sagt er:
„Den Drang des Kindes zur Selbstverwirklichung, den Jung als das Wesen des Kindes bezeichnet, erfahren wir paradoxerweise gerade dann, wenn wir uns ohne be- und verurteilende Distanz unserer Entwurzelung und Heimatlosigkeit ausdauernd und spürbewusst innewerden, also uns nicht durch Verstand und Willen auf ihn fixieren, um die leidige Situation mit Brachialgewalt zu verändern … Das konstellierte Symbol des Kindes kann seine Wirksamkeit in uns nur entfalten, wenn wir selbst, allerdings mit erwachsener Präsenz – nicht durch die heute ebenfalls verbreitete ausgleichende Regression in Infantilismus – , ‘zu Kindern werden‘, das heißt unmittelbar im existenziellen Moment der Empfängnis leben, nichts anderes im Sinn haben als das, was gerade der Fall ist: Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Dann verliert die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein an Bedeutung, und der Begriff der Kompensation wird therapeutisch überflüssig. Wesentlich ist dann allein die Tatsache, dass wir hier und jetzt achtsam und spürbewusst leben, aufmerksam mitten in der Heimatlosigkeit, ja, sogar Haltlosigkeit. Dann sind wir wie das Kind: schwach durch Macht, Leistung, Menschenbild und Weltanschauung, doch stark durch unbeirrbare, strahlend sich durchsetzende Präsenz.“ (10)
3. Die Begriffe Selbstfindung und Individuation im Wandel der Zeit
Ausgehend von diesen tiefenpsychologischen Definitionen des Begriffes durch C. G. Jung und Peter Schellenbaum war dieser Begriff noch in den Siebziger Jahren ein populärer, gesellschaftlich tragender Begriff, der das Denken der Jugendlichen einer breiten Mittel- und Intellektuellenschicht der westlichen europäischen Welt erfasste. Unter dem Aufbruch der sogenannten 68er Generation zog der Begriff Selbstverwirklichung oder Selbstfindung nicht nur eine Vielzahl gesellschaftlicher Veränderungen und Strömungen nach sich, sondern auch die direkte Aufforderung nach Individuation bei jedem Einzelnen. Inzwischen hat das Streben nach Autonomie die Menschen der westlichen Welt mehr und mehr in die Einsamkeit und zur Vereinzelung geführt.
Doch was brachte dieser Zeitgeist der Sechziger, Siebziger mit sich, und warum gelang es gerade ihm, ein tiefenpsychologisches Wissen an die Oberfläche zu bringen, das spätestens seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch das Werk C. G. Jungs allen psychologischen, philosophischen und intellektuellen Fachkreisen zugänglich war – nämlich die Frage nach dem Selbst und nach dem eigenen Gottesbild?
Und was brachte diese anfangs so revolutionäre individuelle Bewegung ins Stocken, beziehungsweise ließ sie auf halbem Wege stehen bleiben?
Ab Mitte der Sechziger Jahre entstand erstmals in der westlichen Welt eine eigene Jugendkultur, die sich über die damals entstehende Popmusik, über die sexuelle Revolution und die Suche nach Bewusstseinserweiterung durch fernöstliche Religionen und Drogen definierte. Diese Jugendkultur entstand aus dem tief empfundenen Bedürfnis heraus, die familiären, gesellschaftlichen und politischen Strukturen zu sprengen und grundlegend zu verändern. Die Nachkriegsgenerationen suchten nach neuen Inhalten für die Sinnfragen ihres Lebens, da sich durch die Wohlstandsgesellschaft die Lebensbedingungen änderten. Das heißt, die Menschen einer breiten Bevölkerungsschicht mussten nicht mehr den größten Teil ihrer Lebenskraft zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse wie Wohnung, Nahrung und Kleidung verwenden. Ebenso war die Familie nicht mehr der einzige Ort für das kollektive Leben. Singles, WGs und gleichgeschlechtliche Partnerschaften wurden zum festen Bestandteil der Gesellschaft.
Das forderte die Frage nach dem persönlichen Glück für die Jugendlichen einer breiten Mittelschicht heraus – einer Schicht, die es nie gewohnt war, sich diese Frage zu stellen, da sie bisher zu sehr mit dem Existenzkampf und mit der Familiengründung beschäftigt war.
So kam es in der westlichen Welt zu einer sich bis heute verstärkenden Sehnsucht nach Bewusstseinserweiterung und der Frage nach der numinosen Dimension in unserer Seele, im Sinne Nietzsches: „Gott ist tot, es lebe Gott!“
Das heißt, die gängigen Religionen können den modernen westlichen Menschen nicht mehr in dem Maße ergreifen wie noch die Generationen zuvor. Das derzeitige Gottesbild war und ist nicht mehr ausreichend, um die Tiefe und Vielfalt der menschlichen Existenz zu erfahren.
Die Songs der Beatles beispielsweise wie „Yesterday“, „All you need is love“ und „Imagine“ warfen die damals drängenden Themen auf wie das subjektive Erleben der erotischen Liebesbeziehungen, sowie die Erweiterung des Bewusstseins. Damit erfassten sie das Zeitgefühl einer ganzen Generation auf populäre Weise. Die Einflüsse, die durch das Bekanntwerden der Beatles mit dem Inder Maharishi Mahesh Yogi, dem Begründer der „Transzendentalen Meditation“ auch ihre Musik prägten, entsprachen den bewusstseinserweiternden Bedürfnissen der Jugendlichen auf der ganzen Welt und brachten dem Westen die All-Einheitserfahrung näher. Dennoch blieben diese Strömungen eher in einem „entgrenzenden Gefühl“ und einer sich selbst verherrlichenden Jugendkultur verhaftet und wirkten somit nicht zukunftsweisend.
Marie Louise von Franz bemerkt, es gäbe in der Neuzeit verstärkt die archetypische Idee der Vorstellung einer zumindest emotionalen Völkerverständigung und Einswerdung der ganzen Menschheit. Jedoch gäbe es nach ihrer Meinung diese Idee mehr als Massenphänomen in einer regressiven Urform der „archaischen Identität“: „Man sieht dies auch besonders deutlich in der Bewegung der Hippies, bei den sich auflehnenden Studenten, bei den Roten Garden in China und ähnlichen Wellen jugendlicher Revolten: selber besessen vom Archetypus des puer aeternus (dem ewigen Jüngling, Anm. d. Verf.) … huldigen sie der reinen Emotion mit bisweiligen Ansätzen zu einer Gefühlskultur durch Musik, Blumen usw. Sie wollen sich nicht auf vernünftig formulierbare Ziele festlegen lassen, und was sie verbindet, ist nicht so sehr eine Idee als eine mächtige Emotion … nicht ohne die entsprechende Begleiterscheinung einer Inflation und ihrer gefährlichen Folgen … Dem gegenüber gäbe es nur ein Mittel, nämlich die innere Verfestigung des Individuums, durch die es vor der Vermassung geschützt bleiben könnte. Wird aber diese innere Verfestigung des Individuums nicht bewusst vollzogen, so tritt sie spontan ein, in der Form einer unglaublichen asozialen Verhärtung des Massenmenschen gegen seinesgleichen… Die Seele aber, `die nur aus der menschlichen Beziehung lebt`, geht verloren. Denn die Seele ist, wie Jung betont hat, `nie vollständig ohne die Beziehung auf den anderen Menschen. Der unbezogene Mensch hat keine Ganzheit, denn er erreicht diese nur durch die Seele, die ihrerseits nicht sein kann, ohne ihre andere Seite, welche sich stets im Du findet` (57, Zit. Ebenda, Paragraf 454) Darum bedeutet auch Individuation keine egoistische Vereinzelung, sondern im Gegenteil, erst die Voraussetzung echter Bezogenheit und einer tragfähigen sozialen Einstellung.“ (1)
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