Peter Schellenbaum sagt dazu. „ … der existenzielle Moment der Empfängnis, dem das Kind näher als der Erwachsene ist, (bezieht sich) auf größere Weckbarkeit im Lebenspotential, auf Verfügbarkeit für Entwicklungssignale aus der eigenen Anlage. … Als innere Führungsinstanz des Erwachsenen bedeutet das Kind daher dessen Selbst.“ (1)
Es handelt sich also um den Moment des reinen Geschehenlassens und des Empfangens neuer Keime aus dem eigenen Entwicklungspotential, so, wie es gesunde Kinder täglich spielerisch erleben. In diesem Moment zeugen und empfangen wir uns gleichzeitig selbst – und zwar aus der Stille und der Leere heraus in größtmöglicher Offenheit gegenüber unserem Unbewussten.
Wir empfangen den Keim eines neuen Schrittes unserer Individuation wie bei einer Geburt, und das nicht nur in einem einzigen, einmaligen Prozess, wie Peter Schellenbaum betont, sondern immer wieder aufs Neue. „Nicht nur in psychotherapeutischer Begleitung, sondern auch ohne sie ist unser Leben, sofern wir es aus dem existenziellen Moment der Empfängnis gestalten, eine lebenslängliche Geburt.“ (2)
Denn genau das, was sich bei der realen Empfängnis in uns vollzieht, vollzieht sich auch im Psychischen. Wie bei der Verschmelzung einer Ei- und einer Samenzelle, bei der es zur Empfängnis eines Kindes kommt, wird in der Seele ein Wachstumskeimling empfangen, bei dem zuvor zwei Qualitäten miteinander verschmolzen sind. Doch es handelt es sich dabei nicht um die Verschmelzung zweier Zellen, sondern um die Verschmelzung zweier psychischer Energiequalitäten zu einem winzigen Ganzen. Ein Ganzes, das bereits die gesamte Information eines kommenden Entwicklungsschrittes enthält.
Was aber verschmilzt dort mit wem, und welcher Art ist das Zusammenspiel von Klient und Therapeut in diesem kreativen Prozess?
1. Zur Psychoenergetik nach Peter Schellenbaum
Die Methode der Psychoenergetik besitzt, wie bereits erwähnt, sowohl psychotherapeutischen als auch lebenspraktischen Wert, der in unserer modernen Industriegesellschaft mehr denn je gefragt ist, denn laut Statistik erfahren die psychischen Krankheiten in den modernen Industrieländern derzeit einen erheblichen Aufwärtstrend. Es scheint also nicht nur eine Sinnkrise auf allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und institutionellen Ebenen zu geben, sondern vor allem auch in der Psyche des modernen Menschen. Eine Krise, die dem Menschen nicht mehr zu erlauben scheint, seine psychische Energie in vollem Umfang zu erfahren. Deshalb fühlen sich viele Menschen sinnentleert, worauf die Psychoenergetik zu antworten weiß. Was aber können wir uns unter der Methodik der Psychoenergetik vorstellen und was unterscheidet sie von anderen Methoden?
Peter Schellenbaum versteht darunter vor allem die psychologische Erschließung einer wertfreien und an keine festen Muster gebundene Lebensenergie, die zuallererst leiblich erfahren wird. Diese Lebensenergie kann entweder auf der erotischen Spur frei fließen und zur Entwicklungsenergie werden, oder sie kann auf der traumatischen Spur blockiert sein und damit nur auf Umwegen der Entfaltung dienen.
„Die Psychoenergetik richtet ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die ‚winzige Bewegung’ des Körpers und die verbale Äußerung. Würde sie das eine oder andere aus dem Auge verlieren, wäre das Gespür für die derzeitige Energiebewegung oder -stockung verloren … Die Grundfrage lautet also immer: Befinde ich mich in einer ganzheitlichen Lebensbewegung oder stocke ich?“ (1)
Mit dem Leib ist dabei stets der beseelte und geistig reflektierte Körperausdruck gemeint, im Gegensatz zum nur physischen und reflexhaften Körper. Die erotische Spur hingegen meint die Öffnung hin zum Ganzheitsbewusstsein. Peter Schellenbaum erläutert den Begriff Eros im Zusammenhang mit seiner Arbeitsweise wie folgt:
„Die Wege zu diesem (Ganzheitsbewusstsein, Anm. I. W.) sind Erfahrungswege des Eros. Das Wort Eros hat bereits bei Platon die Bedeutung der Ganzwerdung durch die Sprengung der Ich-Grenzen in der Hingabe. Dabei bleibe ich bei diesem Wort, obwohl es in jüngerer Zeit oft ganz anders, nämlich in der Verengung auf bloße Sexualtechniken, gebraucht wird.“ (2)
Mit dem Begriff der Psychoenergetik als zentralem Begriff, arbeitet Peter Schellenbaum insofern, als dass die unmittelbare Erfahrung der Lebensenergie zu seinem Grundanliegen gehört. Durch die Auseinandersetzung mit dem Werk des Jesuiten, Paläontologen und Naturphilosophen Teilhard de Chardin zu diesem Energiebegriff angeregt, schreibt er: „Teilhard befreite sich schreibend von der dogmatischen Enge einer angelernten und ‘aufgezwungenen Theologie‘ und stellte als einziges Wahrheitskriterium das Potential an seelischer Belebung auf.“ (3)
Und weiter: „Durch meine Beschäftigung mit Teilhards Energetik stieß ich auf C. G. Jungs Schrift: ‘Über die psychische Energetik und das Wesen der Träume‘. Auch in diesem Buch beeindruckte mich der Bezug auf menschliche Energiebewegungen jenseits aller trennenden Wertungen.“ (4)
Das heißt, die Lebensenergie wird in diesem psychotherapeutischen Prozess nicht durch die analytische Distanz neutralisiert, sondern durch Hingabe ersetzt, was das Geschehen wesentlich lebendiger macht und das Fließen der Energie erst ermöglicht. Diese Hingabe soll im erweiterten Sinne Hingabe an das Leben und an alle zukünftigen Bindungen lehren, denn die Verbindung von Analytiker und Klient besteht somit in einer realen, sich jeden Moment neu konkretisierenden Verbindung. Dank ihrer Bewusstwerdung kann sie für den Klienten zu einem neuen Beziehungsmodell zu anderen Menschen und zum Leben werden.
Peter Schellenbaum: „Tiefgreifende Veränderungen der Persönlichkeit geschehen nur in der Hingabe an einen Menschen oder ein Werk. In der ungeteilten Hingabe werden Sie selbst zu einem einheitlichen Menschen. Die Erfahrung der Ganzheit ist immer eine dynamische Erfahrung der Bewegung. Sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben, sei diese geistig oder körperlich, heißt, zu einer einzigen strömenden Bewegung zu werden.“ (5)
Gerade das aber bedeutet, sich selbst und die Welt als Ganzes zu erfahren, was für uns moderne, westliche Menschen eine der größten innerlichen Herausforderungen zu sein scheint – wir können analysieren, reflektieren, rationalisieren und organisieren, aber es gelingt uns viel weniger, uns an ein Du und an die Welt zu verlieren. Zwar haben wir inzwischen verschiedene fernöstliche Meditationstechniken erlernt und viele Menschen beschreiten verschiedene Wege zur Bewusstseinserweiterung. Doch werden diese Techniken mehr pragmatisch und partiell genutzt, als würden wir unser Auto auftanken, um wieder für eine Weile mit ihm fahren zu können, anstatt unsere eigene Lebensenergie in Fahrt zu bringen, um uns aus uns selbst heraus zu bewegen und mit der Welt in Beziehung zu setzen.
Meines Erachtens haben wir eine tief verwurzelte Angst vor der ganzheitlichen Hingabe an ein Du und an die Welt. Wir haben Angst, uns in Liebe zu verströmen, weil sich damit unsere mühsam erworbene Ich-Identität zumindest zeitweilig auflöst und wir den Zustand der Leere aushalten müssen, dem einer Erweiterung unseres Ichs vorausgeht. Da uns aber der Zeitgeist unserer zutiefst rationalen Welt diese Ich-Identität als größtmögliches Ziel vorgaukelt und von uns in hohem Maße Pragmatismus und Selbstbeherrschung verlangt, haben wir die tiefe Angst, in der Hingabe und mit dem Verlieren des Ichs, alles zu verlieren. So, wie sich der Jüngling Narziss aus der griechischen Mythologie in Unkenntnis seiner selbst in sein eigenes Spiegelbild verliebte und sich daran verlor. Damit aber entsagte er dem Ruf der Welt nach Hingabe und des Sichverströmens, woran er schließlich zugrunde ging. Wir haben meines Erachtens Angst, dass in einer tiefen Berührung mit einem Du und mit der Welt all unsere Sehnsüchte nach Liebe, Erotik, spielerischem Sein, Hingabe und göttlicher Erfahrung aufbrechen, uns überschwemmen und uns dafür untauglich machen, im Jetzt zu „funktionieren“. Deshalb wagen wir nicht, unsere Sehnsüchte zu formulieren, geschweige denn, sie auszuleben. Peter Schellenbaum erklärt dieses Paradoxon so:
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