„Die widersprüchliche Bemühung, sich um des Lebens willen aus dem Leben herauszuhalten, war der unbewusste Mythos des Bürgertums in Wien um die Jahrhundertwende. Erst in der Abenddämmerung seiner Entkräftung kann ein schicksalhafter Mythos durchschaut und durchbrochen werden. Der Mythos einer distanzierten Autonomie hat heute ausgespielt. Seine Energiebesetzung ist einer Zeit zunehmenden Leidens an der Einsamkeit und Vereinzelung zurückgegangen. Die mittlerweile ’atomisierte Gesellschaft’ sucht einen neuen Mythos.“ (6)
Was aber ist es, was wir nicht zu gewinnen wagen und dennoch sehnlichst erhoffen? Oder anders gefragt: Was genau ist es, was wir in der Hingabe befürchten? Ist es nicht die gleichzeitige Angst davor, entweder sozusagen „auszufließen“ und die eigenen Konturen zu verlieren, oder aber vom anderen „überschwemmt“ zu werden, das heißt, das eigene Ich in der Gegenwart des anderen nicht mehr zu spüren? Das aber ist nichts anderes als das Verlieren der Gefühlsaufmerksamkeit zum leib-seelischen Organismus und somit zum Selbst.
„Die Fähigkeit, allein, das heißt bei sich zu sein, während jemand anderer anwesend ist, sogar in einer intimen Beziehung, führt Sie zu der beglückenden Erfahrung, dass die Liebe manchmal ihr Versprechen einhalten kann. Die Vernichtungsangst, die manche Menschen gerade in der ihnen wichtigsten Beziehung quält, stammt aus der Unfähigkeit zur gleichzeitigen Bezogenheit auf sich selbst und das Du.“ (7)
Das wiederum setzt voraus, dass der Mensch ein eigenes Selbst entwickelt. Doch der Begriff der Selbstfindung hat in der jetzigen westlichen Welt meines Erachtens einen eher abwertenden Charakter angenommen. Selbstfindung oder Individuation versteht sich im Mainstream derzeit im Sinne des oben beschriebenen autonomen Ich-Menschen, der sich in narzisstischer Weise mit seinen Eigenheiten von der Welt abgesondert hat und nun unter seiner Vereinsamung leidet, da es ihm immer weniger gelingt, die Verbindung zum großen Ganzen herzustellen. Diese Abwertung ist umso bedauerlicher, da die Zeit gerade jetzt nach visionären Persönlichkeiten verlangt; nach selbstbestimmten und ganzheitsbezogenen Persönlichkeiten, die der Gesellschaft richtungsweisende Impulse geben können. Einer Gesellschaft, deren Werte durch das Versagen der Religionen, durch Globalisierung, Rationalisierung und Wirtschaftskrisen stark ins Wanken geraten sind und dem Einzelnen keinen Halt mehr geben können. So sind heute immer mehr Menschen der Wohlstandsgesellschaft auf der Suche nach dem persönlichen Lebenssinn.
Es scheint also nicht nur aus tiefenpsychologischer Hinsicht, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht notwendig zu sein, den Begriff der Selbstfindung oder Individuation zunächst in seiner Gesamtheit zu betrachten, denn nach C. G. Jung schließt Individuation den Menschen nicht von der Gesellschaft aus, sondern führt ihn mitten in die Gesellschaft hinein.
2. Zum Begriff Selbstfindung oder Individuation
C. G. Jung definiert den Begriff „Selbst“ folgendermaßen: „Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch jener Umfang, der Bewusstsein und Unbewusstes einschließt; es ist das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Bewusstseinszentrum ist.“ (1)
Oder auch: „Wenn man annimmt, das Gott den Seelengrund berühre und bewirke oder gar dieser sei, so sind die Archetypen sozusagen die Organe (Werkzeuge) Gottes. Das Selbst ‘funktioniert‘ wie das Christusbild. Das ist der theologische ‘Christus in nobis‘. So haben nicht nur ich, sondern schon die Alten gedacht, zurück bis Paulus.“ (2)
Anthony Stevens sagt in seiner Biografie über C. G. Jung: „Seit Aristoteles haben sich Philosophen für das principium individuationis interessiert, aber nur wenige Entwicklungspsychologen haben sich im 20. Jahrhundert mit diesem Phänomen beschäftigt, das sie dann als ‘Selbstverwirklichung‘ oder ‘Selbstrealisierung‘ bezeichneten. Jungs Konzept ging darüber hinaus; er betrachtete Individuation als ein biologisches Prinzip, das in allen lebenden Organismen auftritt und nicht nur auf den Menschen beschränkt ist. Jung meinte weiter, die Individuation sei ein Ausdruck dieses mehr oder weniger komplexen biologischen Prozesses, durch welchen jedes Lebewesen zu dem wird, was es von Beginn an zu werden bestimmt war.“ (3)
Und weiter dort: „Das Selbst ist sowohl Architekt als auch Bauherr der dynamischen Struktur, auf der unsere psychische Existenz Zeit unseres Lebens ruht. Obgleich es offensichtlich biologische Ziele verfolgt, strebt das Selbst auch nach der Erfüllung in den spirituellen Dimensionen von Kunst und Religion oder im Innenleben der Seele. Daher ist es möglich, das Selbst als tiefes Mysterium, eine geheime Kraftquelle oder die Manifestation des inneren Gottes zu erleben. In zahlreichen Kulturen wurde es mit dem Göttlichen identifiziert und findet Ausdruck in solchen Symbolen wie dem Mandala.“ (4)
Diese schöpferische Instanz in uns schafft die Einheit und Rückbindung an alles Lebendige und Zyklische, wie wir es aus einem Urzustand des Menschlichen kennen oder erahnen, beziehungsweise in unserem kollektiven Unbewussten gespeichert haben. Diesen strukturellen Urzustand bezeichnet C. G. Jung als Archetyp des Selbst, der das Numinose einschließt. Das lateinische Wort Numen, im Plural Numina, bezeichnet in der römischen Religion „Wink, Geheiß, Wille, göttlicher Wille“, das Wirken einer Gottheit. Der Theologe Rudolf Otto hingegen benutzte den Begriff zur Bezeichnung der Anwesenheit eines „gestaltlos Göttlichen“. In der älteren römischen Religion bezeichnet Numen mehr das Wirken und den Willen einer Gottheit als diese selbst. Dieses Numen konnte Naturerscheinungen wie einem Fluss, einem Baum oder einem Stein innewohnen. Das Numinose stellt in unserem Leben nun ein unendliches Potential dar, dem wir uns annähern, aber es niemals erreichen können. In der Tiefenpsychologie wurde der Begriff durch C. G. Jung in die analytische Psychologie eingeführt, da nach Jung die Archetypen dem Bewusstsein als numinos erscheinen.
Der Begriff religiös trifft zwar im Kern genau dasselbe, nämlich Rückbindung (religare = rückbinden) an das Göttliche in uns, doch wird der Begriff religiös oft im weltanschaulich-philosophischen und weniger im unmittelbar seelisch-erfahrbaren Zusammenhang verwendet. Dadurch wird er im tiefenpsychologischen Zusammenhang zu ungenau assoziiert, weshalb der Begriff des Numinosen hier treffender ist.
Selbstfindung heißt nach C. G. Jung demzufolge auch: „ … zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte „Individuation“ darum auch als „Verselbstung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.“ (5)
Doch schon damals warnte C. G. Jung vor der Vermischung der Begriffe Individuationsprozess und Ich-Werdung: „Ich sehe immer wieder, dass der Individuationsprozess mit der Bewusstwerdung des Ichs verwechselt und damit das Ich mit dem Selbst (s.d.) identifiziert wird, woraus natürlich eine Begriffsverwirrung entsteht. Denn damit wird die Individuation zum bloßen Egozentrismus und Autoerotismus. Das Selbst aber begreift unendlich viel mehr in sich als ein Ich … es ist ebenso der oder die anderen wie das Ich. Individuation schließt die Welt nicht aus, sondern ein.“ (6)
Allerdings stellte sich auch C. G. Jung die Frage, durch welchen Prozess das bewusste Ich mit dem großen Potential des Unbewussten Kontakt aufnehmen und in Beziehung treten kann.
So war er der Meinung, dies könne vor allem im Traum passieren, dessen Geschehen durch Assoziationen zu den Trauminhalten im Nachhinein von Klient und Therapeut analysiert und gedeutet werden müssen, oder aber durch aktive Imagination. Hier setzt Peter Schellenbaum an, indem er diesen Prozess durch die Einbeziehung des Leiblichen erlebbar macht. In seinem von ihm so benannten „Spontanritual“ erlebt und erfährt der Klient im existenziellen Moment der Empfängnis genau jenen Individuationsschritt, der gerade für ihn ansteht. Dieses Erleben geschieht zunächst durch den leiblichen Ausdruck der momentan stärksten Empfindung. Dieser leibliche Ausdruck wird anschließend gemeinsam mit der Gruppe reflektiert, um im Klienten durch den treffenden sprachlichen Ausdruck als bewusster Entwicklungsschritt erlebbar zu werden. Um genau diesen Prozess geht es beim „Existenziellen Moment der Empfängnis“, von dem im Weiteren ausführlicher die Rede sein wird.
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