"Ich bringe diesen Arsch um!"
Ich höre den anderen Detektor, wie er sich mir nähert. Er scheint ebenso wenig ein wirklicher Detektor zu sein, wie die Frau.
"Es tut mir leid", erklärt er mit sanfter Stimme. "Wir mussten warten, bis die Verbindung zu den Kameras unterbrochen war. Nun sehen die Leute im Ministerium nur das, was sie sehen sollen: Eine Gruppe von Schauspielern in einem identisch eingerichteten Raum."
Meine Tränen fließen weiter. Ich schluchze. Die Arme der Frau, deren Duft etwas Tröstendes an sich hat, schließen sich voller Mitgefühl um meinen Kopf. Ich erkenne ihre Stimme, die beruhigend auf mich einredet. Es ist die Schützerin vom Vorabend. Die Frau, die mich so seltsam angesehen hat und mir Mut zusprach.
Sie küsst mein Haar und meine Stirn, wie es meine Mutter auch immer tat. Ich wünschte, sie wäre es. Sie ist es nicht. Sie ist wenige Jahre älter, als ich. Vielleicht 25 oder 26.
Als ich nach einer endlosen Weile zu ihr aufschaue, wischt sie sich mit ihrem dunklen Handschuh über das Gesicht.
Dann ist der mitfühlende Ausdruck weg, als sie aufblickt; in das Gesicht des Mannes in der Kleidung eines Detektors.
"Es wird Zeit. Wir müssen gehen."
Seine Stimme klingt amüsiert. "Ich hatte schon befürchtet, du wolltest bleiben."
Die als Detektorin verkleidete Frau hebt den Stift auf, wischt ihn gewissenhaft mit einem sauberen Tuch ab und klickt ihn in die Halterung an meinem Rollstuhl. Das gibt mir die Möglichkeit, wieder selbstbestimmt zu handeln.
Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu. Vorerst lasse ich den Stift da, wo er ist.
Jetzt erkenne ich, dass sie dieselbe ist, die mich gestern während des Rückflugs bewacht hat. Das Gesicht des Mannes habe ich mir zwar nicht eingeprägt, aber er ist mit Sicherheit ebenfalls derselbe.
Onkel Hakon und meine zurückgekehrte Tante Liv sitzen da, wie vom Donner gerührt.
"Wir sind vom Widerstand" grinst die Frau, die mich getröstet hat. Sie kommt mir bekannt vor. Ich schaue noch einmal hin. Es ist Sandrine. Natürlich! Wie konnte ich das übersehen? Ich hätte sie gestern im Jet erkennen müssen. Damals trug sie ihre Haare zu einem Bob frisiert, kinnlang. Jetzt wallt ihre braune Mähne bis über die Schultern. Die Leibwächterin meiner Mutter scheint ihren Job sehr ernst zu nehmen, wenn sie mich immer noch beschützt.
"Ich wusste, mit dem Balg deiner bescheuerten Schwester gibt es nur Scherereien", schreit Hakon."
"Halt gefälligst einmal deinen Mund", keift Liv. Wow. Sie steht zu mir. "Sie ist alles, was mir von Olivia geblieben ist."
"Jetzt werden wir Skeyra wegbringen.", erklärt ihnen der Mann. Gehören die beiden vielleicht zum Widerstand? Was sonst. Es ist die einzig sinnvolle Erklärung, die mir in den Sinn kommt. Wieso hilft mir der Widerstand? Geht es um Publicity? Der Name Feralov... Das ist es. Ich lasse mich publikumswirksam für den Widerstand verwenden. Meine Befreiung ist ein symbolischer Akt.
"Wenn alles gut geht, melden wir uns.", erklärt der Mann. "Wenn nicht... " er schüttelt den Kopf.
Der Widerständler wendet sich an mich. "Entschuldige, aber das ist die Wahrheit. Es wird hier bald von Ministeriumsleuten Wimmeln. Sie werden uns jagen."
Ich schnappe den Stift aus der Halterung vor meinem Gesicht und lasse ihn auf der Tastatur auf meinem Schoß tanzen.
"Schon gut", gebe ich mit meiner Computerstimme zurück.
Liv nimmt mein Gesicht in ihre Hände. "Pass auf dich auf, Liebes."
Ich lache. Der Stift fällt zu Boden. Sandrine hebt ihn auf.
"Wie denn?" schreibe ich. Die Computerstimme plärrt: "Ohne funktionierenden Körper."
Sandrine geht dazwischen: "Wir geben auf sie Acht." Sie ergreift Livs Hand. Sie streichelt kurz mit ihren Daumen über Tante Livs Handrücken. "Wir müssen los."
Sandrine stößt wie versehentlich gegen den Stuhl meines Onkels. Er kippt um. Hakon liegt am Boden. Sein Hinterkopf prallt mit einem dumpfen Geräusch auf den flauschigen Teppich.
"Ups. Wie ungeschickt von mir", entfährt es der angeblichen Detektorin.
Ich lache. Jetzt ist es egal, was er von mir hält.
Ein Experiment
Wir fahren mit dem Hovercar zur Forschungseinrichtung der Universität. Sie befindet sich am Stadtrand, im Süden. Wir müssen durch den Berufsverkehr von Tylaris.
Sandrine fährt. Sobald wir im Car sitzen, zieht Sandrine ihr Barett ab und stopft es ins Seitenfach. Ihr brünetter Pferdeschwanz baumelt vom Hinterkopf herab. Einige kürzere Strähnen fallen ihr in die Stirn. Sie sieht gut aus.
Ich kann nichts sagen, da der Laserstift mit dem Rollstuhl im Kofferraum des Wagens untergebracht ist.
Gut, dass ich über einen klappbaren modernen Rollstuhl verfüge, der überall hineinpasst.
Isak, Sandrines Begleiter, hat sich mir kurz vorgestellt. Er steigt irgendwo unterwegs aus. "Viel Glück", wünscht er uns. Dann knallt er die Tür zu und verschwindet in der Menschenmenge, die die Gehwege von Tylaris bevölkert. Menschen die Einkaufen, ihre Arbeit beendet haben. Der Pulsschlag der Hauptstadt Norgenons.
Seit ich gelähmt bin, habe ich mich immer davon ferngehalten, so gut ich kann.
Die Fahrt ist nervenaufreibend — für Sandrine. Es geht mitunter schleppend voran. Sie biegt ab, nimmt Nebenstraßen, hupt fortwährend, bis Passanten fluchend zur Seite springen.
Je länger ich hinter ihr im Hovercar sitze, desto ruhiger werde ich. Ich sehe ihr zu. Sie ist eine geschickte Fahrerin. Sie nutzt die Schimpftiraden, um sich in einen wacheren Zustand zu versetzen. Nicht so wie Onkel Hakon, der immer wirklich wütend wird, besonders bei Nichtigkeiten. Wenn ich bei ihm im Hovercar mitfahren musste, hatte ich jedes Mal Angst. Er hätte uns oder Fußgänger mehr als einmal beinahe schwer verletzt, wenn nicht getötet.
Bei Sandrine ist es anders. Trotz ihrer scheinbaren Aufregung fährt sie kontrolliert und sicher. Und das, obwohl sie das Gaspedal immer wieder bis zum Anschlag drückt, wenn sie nicht gerade versucht, das Bremspedal durch das Bodenblech zu treten.
"Ich bin Sandrine. Das hast du sicher bereits erraten. Ich bringe dich in Sicherheit — zum Widerstand."
Wenigstens eines funktioniert noch: Mein Verstand. Ich liege also richtig.
Sofort nach der Ankunft am Forschungskomplex werde ich von Sandrine auf ein fahrbares Bett verfrachtet. Mein Rollstuhl bleibt im Hovercar zurück.
Sander Marrado erscheint. Ich bin überrascht. Das hat mein ach so überragender Verstand nicht kommen sehen. Ich dachte, das Ministerium hätte ihn in Arrest genommen.
Fein kombiniert, Skeyra.
"Skeyra, ich habe etwas für dich, das dir gefallen wird."
Er schließt einen tragbaren Computer an ein Elektrodenstirnband an. Ich lasse zu, dass er es um meinen Kopf legt. Mir bleibt eh keine Wahl.
"So, jetzt sag mal was, Kleine."
Ich sehe ihn fragend an.
"Versuch, zu sprechen", fordert er mich auf und hebt seine Hände an, die mir sagen: Nur zu!
Ich tue ihm den Gefallen. Meine Stimme erklingt aus dem Computer. Simultan. Mit einer Menge Ausdruck darin.
"Ich bin beeindruckt, Sander Marrado." Ich bleibe dennoch distanziert. Schließlich hat er mich ganz schön ausgenutzt an seinem Haus am Fjord.
"Ach was, nur eine Fingerübung." Er zwinkert mir zu.
"Sandrine, was immer du hier treibst", sage ich, meine neue Stimme nutzend. "Ich bin froh, dich wiederzusehen."
"Keine Ursache. Ich bin deiner Mutter etwas schuldig."
Aha. Schuldgefühle. Das treibt sie um.
Marrado hebt amüsiert die Brauen. "Stimmt. Du bist doch die Leibwächterin..."
Sie hebt die Hand. "Ja. Ich habe damals versagt. Das wird nicht wieder geschehen."
Zwei Jahre hat sie bei meiner Mutter gearbeitet. Sie gehörte schon fast zu Familie. Ich war 17, als sie zu uns kam. Sie war damals selbst erst 19.
Читать дальше