Piep. Die Maschine wartet.
"Gut. Weiter. Aufregung. Was bringt dich auf die Palme?"
Gut? Dir werde ich zeigen, was gut ist.
"Deine dämliche Arroganz. Die Scheiß-Einstellung meines Onkels, der mich nur loswerden will. Tante Liv, wie sie wegsieht und tut, als wäre er ein guter Mensch. Sie schmeißt ihr Leben weg und ruiniert meines."
Piep. "Das tat weh. Autsch. Die Strafe folgt auf den Fuß." Er lächelt. "Sexuelle Stimulation. Du musst erregt werden. Erzähl mir etwas über Sex."
Sandrine an der Tür atmet scharf ein. Könnte ihr Blick töten, wäre Marrado sofort zusammengebrochen.
"Muss das wirklich sein?", will ich wissen.
Eine Salve Gewehrfeuer.
Ich reiße mich zusammen.
"Thorsmid. Er hat mich geküsst. Am Ende eines Tangos."
Marrado unterbricht mich. "Das ist es nicht. Das war kein Sex."
"Witzig!", schreie ich ihn an. "Ich hatte noch nie Sex!"
Sandrine hält sich die Ohren zu. Seit wann ist sie so zart besaitet?
Seit wann stört es mich nicht, meine intimsten Details herauszuposaunen? - Richtig, seit mein Leben in Gefahr ist, ich an einem Experiment teilnehme, dass mein Bewusstsein höchstwahrscheinlich auslöschen wird und mein Verstand vermutlich seit Tagen mehr oder weniger dauerhaft dem digitalen Äquivalent leichter Drogen ausgesetzt ist; was ich nicht beweisen kann. Dazu kommen körpereigene Substanzen, die den Stress der Todesgefahr abmildern sollen, nehme ich an. Alles in allem ein schriller, persönlichkeitsverändernder Cocktail.
Sander gibt mir eine Ohrfeige. "Komm zu dir. Sex. Da muss es doch was geben. Erzähl mir was. Los, Mädchen."
Sandrine steht auf. "Es reicht, Freundchen."
Sander Marrado schreit sie an. "Es reicht nicht. Wenn sie es nicht schafft, stirbt sie. Dann war alles umsonst. Sie muss es schaffen."
Ups. Also gut. Jetzt werden es alle erfahren. Das habe ich nicht mal meiner besten Freundin erzählt — als ich noch eine hatte. Jetzt geht es um Leben und Tod. Mein Leben.
"Schon gut", rufe ich ihm zu. "Da ist noch eine Erinnerung. Die könnte ausreichen. Ich bin mit meinem Freund zusammen. Samuel. Ich bin 16. Ich dachte, wir machen zusammen Hausaufgaben. Auf einmal küsst er mich, als wir auf meinem Bett sitzen. Dann sind seine Hände auf meiner Haut. Schieben das Shirt hoch. Und seine andere Hand... Sollte da eigentlich nicht hin, wo sie jetzt hinwandert. Er hat sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht. Den ganzen Tag musste ich an ihn denken. Mein Atem geht schneller, ich werde wild. Ich will immer mehr von ihm, als er mir..."
"Reicht das immer noch nicht?", schreit Sandrine.
Piep. Marrado läuft rot an, wie eine dieser genetisch hochgezüchteten Chamäleonforellen. Er, der Schwerenöter?
Zerknirscht gibt er zu: "Tut mir leid. Dass du noch nie wirklich... Und dass du das jetzt... Ich meine..."
Gewehrfeuersalven. Näher.
"Weiter", Sanders nüchterner Tonfall ist zurück. "Liebe. Mutter, Partner, wen auch immer. Echte herzliche Liebe. Kein Sex."
"Ich liebe meine Mom. Sie ist so stolz. Immer für mich da."
Ich höre ein Schluchzen.
"Mom", rufe ich?
Ich erhalte keine Antwort. Habe ich mir das nur eingebildet?
"Sie war alles für mich", fahre ich fort. "Noch mehr, als Dad. Sie wusste, wenn ich Trost brauchte..."
Piep. "Das reicht. Gut so. Verlust. Wann hast du einen geliebten Menschen verloren?"
Jetzt bin ich in Fahrt. Mir ist alles egal. Alles will aus mir heraus. Vielleicht sollten die Seelenklempner mal so eine Therapie erfinden. Unter Beschuss, als Versuchskaninchen für ein abgefahrenes Bewusstseinsexperiment.
"Ich fahre mit dem Hovercar. Meine Fahrlizenz ist wenige Stunden alt. Wir wollen ins Holokino. Ein anderes Hovercar überholt uns auf der Kreuzung. Ein anderes rammt uns von links. Es ist vom Bürgerschutz. Blaue und rote Lichter blinken. Es trifft dort auf, wo meine Eltern sitzen. Ich reiße das Steuer herum. Zu spät.
Ich werde aus dem Car gezogen. Meine Eltern sind tot. Mein Vater blutet am Hals. Meine Mutter hinter mir hat eine gebrochene Wirbelsäule."
Ich schniefe. "Ich vermisse sie so."
Sandrine zieht die Nase hoch. "Es tut mir leid, Kleines."
Sie kommt und hält meine Hand. "Es tut mir ja so leid."
Ich bin verwirrt. Sie mag mich, das habe ich heute erfahren dürfen. Mehr, als gut für sie sein könnte.
"Danke, Sandrine", flüstere ich. "Es tut gut, dass jemand mit mir fühlt. Das habe ich lange nicht mehr..." mir fehlen die Worte.
Ihre Lippen beben. Sie wird wieder ernst und nickt mir knapp zu.
"Konzentrier dich. Du machst deine Sache gut."
Piep. "Gut. Nein — ich meine. Wir haben es. Nächster Punkt: Trauer."
Ich bin gut. Es ist, als würde ich von einer anderen Person erzählen.
"Die Beerdigung. Sie schütten Erde auf das Grab. Immer mehr. Bis ihre Särge nicht mehr zu sehen sind. Ich weine. Mom. Dad. Ich brauche euch so sehr."
Jetzt weine ich wirklich.
Sandrine drückt meine Hand. Sie beißt sich auf die Lippe.
Piep. "Es tut mir wirklich, wirklich..."
Laute Salven. Einschläge in Wände, metallische Geräusche, als die Geschosse abprallen oder was auch immer.
Sanders Stimme wird schrill. "Verletzung. Wann wurdest du körperlich oder seelisch verletzt?"
"Ich drehe mich um. Im Hovercar. Mutter hinter mir. Mein Vater blutend. Etwas knackt. Ich sacke schlaff in mich zusammen. Ich bin gelähmt. Für immer."
Piep. Ein Schniefen. Noch eins. Sandrine und Sander. Meine Güte, nehmt euch doch einmal zusammen.
Sandrine nimmt mich in den Arm.
"Bei den Sieben. So ein F..." Sander Marrado unterbricht sich, sichtlich mitgenommen. "Gewinn. Was war dein größter Gewinn?"
Ich antworte ohne zu überlegen, während Sandrine zur Tür läuft. "Ich kann wieder einen Körper bekommen. Alles daran ist schlimm. Aber nicht für mich. Wenn es klappt, bin ich wieder heil. Ich will es."
Piep. "Gut so. Stolz. Wann warst du stolz?"
"Als ich meine Medaille bekam, als Siegerin des Wettbewerbs."
"Das reicht nicht. Gab es da noch mehr?"
Isak stürmt rein, der Widerständler. Er verschanzt sich neben Sandrine an der Tür.
Sander rutscht auf den Boden und spricht jetzt zu mir herauf. Ich sehe ihn nicht mehr.
"Ich gab eine Ehrung in der Schule. Ich führte meine Kür noch einmal vor, damit alle es nicht nur am Holoschirm sehen konnten. Ich erhielt stürmischen Beifall aus allen Klassen. Mein Herz klopfte vor Freude."
Piep. "Das ist gut. Apathie. Hmm. Wann wolltest du nichts mehr von der Welt wissen?"
"Als ich allein war. Gelähmt, meine Eltern tot. Meine Tante verreist. Mein Onkel lehnte es ab, mich allein aufzunehmen. Man schickte mich ins Waisenheim. Ich saß nur noch da, weiß nicht, wie viele Tage und..."
Piep. "OK. Entspannung. Wann warst du das letzte Mal relaxt?"
"Hmm. Ich weiß nicht."
"Konzentrier dich."
Gewehrfeuer. Ziemlich nah. Ich zucke zusammen, als Isak das Feuer erwidert.
"Ich... Ich weiß nicht. Doch. Als ich hierher gebracht wurde. Ich wusste, dass mir auf der Fahrt nichts passieren kann. Ein Pol zwischen zwei heftigen Erlebnissen. Und irgendwie fühle ich mich besser, wenn Sandrine bei mir ist."
Piep. "Danke. Ekel."
"Diese schmierigen Schützer, die sich an meinen geheimen Gedanken weideten. Onkel Hakons Blicke, als er ins Bad kam. Meine Tante war unten im Haus. Er hat sich vor die Wanne gestellt und tut, als müsse er mich verschiedene Dinge fragen. Seine Blicke sind überall. Dann beginnen seine Hände, meine Knie zu betatschen. Seine Zunge fährt über seine Lippen, während seine Hand ins Wasser taucht."
Ich schüttele mich. Habe ich das wirklich eben jemandem anvertraut? Das war schlimmer, als mein intimes Erlebnis mit Samuel zu beichten.
Sandrine schlägt mit der Faust gegen die Wand. Eine Blutspur bleibt auf dem Putz zurück.
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