Piep. "Das reicht für mindestens fünf Leben." Marrados Blick ist mitfühlend. "Weiter", drängt er. "Hass."
"Ich hasse die Regierung. Sie tut nichts, obwohl es das Verschulden ihrer Behörde war, deren Car in uns reinkrachte. Es war ein Fahrzeug der Regierung, das meine Eltern tötete. Dieses verlogene Regime, das Leute verschleppt und tötet. Es wird auch mich töten, mit diesem Scheiß-Experiment."
Piep. Marrado duckt sich, als hätte ich ihn geschlagen.
Gewehrfeuer. Eine Kugel schlägt in die Wand knapp hinter mir ein.
"Letzte Frage: Fürsorge. Wann hast du dich um jemanden gekümmert?"
"Das Mädchen, das mit mir und Magnus in der letzten Auswahl war. Emma. Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Sie ist gesund. Sie hatte einfach nur Angst. Ich habe mich für diese Experimente hier gemeldet, ehe die Antwort feststand, wer von uns beiden hierher muss. Ich wäre sowieso genommen worden. Dennoch hat sie mir gedankt. Ich habe einmal etwas richtig gemacht."
Piep. Piep. Piep.
"Geschafft. Die Nanobots haben alles, was sie brauchen. Bleib ganz ruhig, es kann jetzt etwas seltsam werden."
Es klickt. In meinem Kopf. Oder ist es ein Schalter, den Sander umlegt?
Ich sehe die Decke über mir. Schachbrettartig. Sie besteht aus Schaumstoffplatten. Sie bewegen sich untereinander, wie bei einem Schieberätsel. Dann wölbt die Decke sich nach oben und saugt mich ein, wie ein schwarzes Loch.
Schwärze.
Meine Eltern. Sie turnen durch die Schule. Mein Vater setzt sich auf ein Bett, während der Medaillenverleihung. Er wird zu Marrado. Der schiebt seine Hand in meine Hose, während er mich am Ende eines Tangos küsst. Blut tropft aus dem Hals meines Vaters, doch ich melde mich freiwillig, um an seiner Stelle zu verbluten. Meine Mutter steht vom Rücksitz auf. Sie ist nach dem Unfall unverletzt. Dann geht sie fort, ohne auf meine flehenden Rufe zu achten.
Ein Hovercar fährt durch meinen Kopf und lacht mich aus, als es sieht, wie sich ein Wal an mir reibt.
Sandrine tröstet mich, während ich in der Wanne liege und von Onkel Hakon begafft werde. Ein Hovercar kracht in ihn rein. Er fällt in die Wanne. Plötzlich liegt er in einem Grab. Ich schütte Erde über ihn, bis er nicht mehr zu sehen ist.
Jemand von der Regierung im grauen Anzug schnappt sich meine Fahrlizenz, wie um sie mir zu überreichen. Entspannt sitze ich im Hovercar und nehme sie entgegen. Doch er rammt sie mir in den Hals und lacht. Dann schlägt ihn jemand nieder. Sandrine.
Ich steige in einen Hoverjet und fliege. Unmögliche Manöver. Ich bin ein As. Keiner schlägt mich. Dann verschätze ich mich. Nicht, weil ich daneben liege, sondern weil die Turbinen nur noch mit 70% Leistung arbeiten. Ich stürze dem Boden entgegen. Schwärze.
Ich bäume mich auf. Zucke. Ich kämpfe gegen die Dunkelheit an. Will die Augenlider öffnen. Kugeln schlagen um mich herum ein. Ich höre das Pfeifen. Rolle mich zur Seite. Etwas ragt aus meinem Hals. Wird herausgerissen, als ich plötzlich falle. Mein Becken schmerzt an der Seite von einem Aufprall. Mein Arm. Ich habe mir etwas aufgerissen.
Endlich bekomme ich die Augen auf. Eine Kanüle ragt aus meiner aufgerissenen Haut am Unterarm. Ich ziehe sie einfach heraus. Mit den Pflastern, die sie gehalten haben.
Am anderen Arm sitzt eine weitere Kanüle. Ich ziehe sie mit einem Ruck heraus.
Dann spüre ich zwei Metallstäbe am Schädel. Reiße sie heraus.
Neben mir sitzt Marrado mit einer Flasche Spray.
"Stillhalten", flüstert er. Sprüht dahin, wo die Stäbe saßen.
"Synthohautspray", raunt er. Ich verstehe nicht.
Etwas tropft aus meinem Gesicht. Blut. Viel Blut.
Marrado reicht mir ein Taschentuch. Ich presse es auf meine Nase.
"Du hättest warten sollen, bis ich dir die Schläuche entferne."
Kugeln schlagen in der Nähe ein. Das Pfeifen von Querschlägern. Wir ziehen die Köpfe ein.
"Vielleicht auch nicht", verbessert er sich.
Ich reiße mir den Kranz von Elektroden ab, die noch an meinem Kopf kleben.
Ich spüre die Schmerzen des Aufpralls und meiner Wunden. Es ist herrlich. Ich kann so viel fühlen. Endlich.
Spontan übergebe ich mich. Klare Flüssigkeit. Anscheinend hat mein Körper bisher nur Nährlösung bekommen. Wie banal diese Erkenntnis doch ist.
Bürgerschützer dringen in den Raum ein.
Einer wirft etwas, das aussieht, wie eine Granate.
Ein Blitz. Ein extrem lauter Knall.
Meine Ohren klingeln. Ich bin blind.
Jemand hebt meinen Körper auf. Ich werde getragen. Ich kann es spüren. Erschütterungen von Schritten. Ein Arm unter meinen Kniekehlen, ein anderer unter Hals und oberem Rücken. Es tut so gut, etwas zu spüren.
Langsam sehe ich etwas. Meine Ohren klingeln weniger. Ich höre Stimmen.
Ich werde abgesetzt. Isak kniet neben mir. Sandrine hält mich im Arm. Wir befinden uns in einem Korridor, der ebenso hell und steril scheint, wie die Flure im Ministerium.
"Wo ist Marrado?" , frage ich verwirrt.
"Ihr müsst den Gang lang und dann die Treppe hoch. Oben wartet ein Hoverjet."
"Und du?"
"Ich komme nach."
Er hat eine Waffe bei sich. Eine automatische, vom Bürgerschutz.
Ich nicke. Dann laufe ich los, gestützt von Sandrine. Meine Bewegungen sind ungelenk. Ich verfluche mich. War ich nicht einst eine Bodenturnerin? Wie es scheint, habe ich alles verlernt.
Hinter uns schlagen Kugeln ein. Sandrine stößt mich zu Boden und fällt auf mich. Ich sehe zurück.
Isak wird getroffen. In die Brust. Doch er steht noch einmal auf.
"Lauft, Skeyra." Er röchelt. "Sandrine. Ich liebe dich."
"Ich weiß", ruft sie zurück. Tränen. Ich glaube, sie hat ihn auch geliebt. Zumindest so, wie eine Schwester ihren Bruder. Es schwingt in ihrer Stimme mit.
Ich laufe.
Ich öffne die Tür am Ende des Ganges. Ich bin erleichtert, dass sie unverschlossen ist.
Endlich schlüpfe ich hindurch, als mich etwas in den Bauch beißt.
Ich sehe hinab. Blut. Ich bin getroffen.
Ich wanke zur Treppe. Sandrine stützt mich. Entsetzen spiegelt sich in ihrem Gesicht.
Ich breche zusammen.
#
Notstart
Ich bin wieder da. Öffne die Augen.. Jemand gibt mir eine Spritze.
"Adrenalin. Halte durch." Es ist Sander Marrado.
Ich sitze im Pilotensitz.
Im Pilotensitz?
Was zur Hölle soll ich hier?
Sandrine, die neben mir Platz nimmt, sieht mir eindringlich in die Augen.
"Du warst Pilotin. Deine Wirtin war es, bevor sie geklont wurde", erklärt sie. "Du musst dich nur erinnern. Ich weiß, dass du es kannst. Du schaffst das."
Panisch sehe ich mich um. Tausend unbekannte Knöpfe. Ich höre meine sich überschlagende Stimme: "Welchen soll ich drücken, was soll ich nur tun?"
Ich beginne, zu hyperventilieren. Ich atme zu schnell.
"Ganz ruhig, rät mir Sandrine. "Erinnere dich. Tu, was dein Instinkt dir sagt."
Ich beruhige mich. Ziehe eine Kotztüte aus der Mittelkonsole. Atme hinein, bis ich wieder normal Luft bekomme.
Ich greife nach oben, über meinen Kopf. Drücke einen Schalter. Eine Turbine jault dunkel auf und schraubt sich immer weiter die Tonskala hinauf. Zwei Propeller, horizontal angeordnet, vor der Kanzel links und rechts, laufen an. Vermutlich ebenso im Heck.
Der Antrieb erfolgt mit Kerosin, nicht mit Elektrizität. Außer für Kampfjets der Regierung ist es nicht erlaubt, andere Antriebe als elektrische zu verwenden.
Woher weiß ich das?
Ich schnappe mir den graugrünen Helm, der unter meinen Knien vor dem Sitz liegt und setze ihn auf.
Als würde ich das jeden Tag machen, ziehe ich einen Knüppel aus der Armatur.
Probeweise bewege ich ihn nach vorn. Die Rotoren in meinem Sichtbereich schwenken so, dass sie nach hinten abstrahlen.
Ich ziehe den Knüppel heran. Die Rotoren schwenken mit der Unterseite nach vorn.
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