1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Ich fühle mich lebendiger. Es ist schön hier.
Marrado möchte mir ein Interface anlegen. Es ist genau so eins, wie im Ministerium, während der Simulation. So eins, wie Thorsmid verwendet hat. Ein Stirnband mit Elektroden.
Ich zögere.
Er erklärt es mir: Die Buckelwale sind eine spezielle Züchtung. Mit dem Interface kann ich spüren, wie sich die Tiere fühlen. Mehr nicht.
Ich setze es auf.
Ich fühle Wasser. Vertrauen. Eine Gruppe, die sich mag. Zwei der Wale balzen. Ich konzentriere mich und spüre die Gefühle des Weibchens.
Der Bulle nähert sich. Reibt sich an mir. Na klar. Die beiden haben sich da was tolles für mich ausgedacht.
Ich nehme die Gefühle der Kuh wahr. Augenblicklich verraucht meine Wut. Ich fühle, was sie fühlt. Sie weiß, dass sie empfängnisbereit ist. Ich bin es — ich bin die Walkuh. Ich habe das Gefühl, als wäre mein Körper wieder heil. Lust breitet sich in meinem Unterleib aus; eine Empfindung, die ich seit vier Jahren nicht mehr gespürt habe.Wie aus weiter Ferne höre ich etwas protestieren. Ich sollte mich diesem Gefühl nicht hingeben. Ich werde manipuliert. Dann ist der Protest aus meinem Kopf verschwunden.
Es ist faszinierend. Durch das Interface fühle ich die Liebe der Walkuh und auch, wie die Berührungen des Bullen mich erregen.Gleich beginnt der praktische Teil des Liebesspiels. Ich weiß es, woher auch immer.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Solch ein Gefühl hatte ich nie, seit meinem Unfall...
Dann spüre ich meinen eigenen Körper. Hände, Arme, Beine. Einen Körper, der sich an meinen schmiegt. Lippen auf meinen. Samtig. Eine Zunge fordert mich auf, den Kuss zu erwidern. Ich öffne meinen Mund und verliere mich. Ich will mehr, doch außer meinem Kopf gibt es nichts, dass ich spüren kann.
Ich öffne die Augen. Marrado sitzt mir gegenüber, ein Elektrodenband auf der Stirn.
Er grinst mich an.
Verlegen senke ich den Kopf. Ich kann nichts sagen, weil ich erst umständlich meinen Stift mit dem Mund aus der Halterung meines Rollstuhls fischen muss.
Ich bitte Marrado, mir das Interface abzunehmen. Es ist ein bisschen viel. Es prickelt noch. Will ich mehr?
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Er lächelt geheimnisvoll. "Ich kann dir helfen, Dinge zu erleben, die du dir nie mehr erträumt hättest."
Er will wissen, was ich genau gespürt habe.
Ich erzähle es ihm in Grundzügen. Gebe auf sein Nachfragen geniert und errötend zu, dass es seltsam prickelnd war.
Obwohl ich das Gefühl des Kusses nicht erwähne, weiß ich, dass er genau im Bilde ist. Spielt er mit mir?
"Wieso haben sie mich geküsst", will ich wissen.
"Weil es das einzig Richtige in der Situation war." Er grinst. "Du bist eine willensstarke Frau. Du weißt, was du willst." Seine Zähne blitzen auf, als sein Grinsen breiter wird. "Du hast den Kuss erwidert."
Verärgert runzle ich die Stirn. Ich fixiere ihn und schmolle. Am liebsten würde ich jetzt demonstrativ die Arme verschränken und diesem selbstverliebten Arsch die kalte Schulter zeigen.
Er lächelt. "Es gibt Hoffnung für dich, Skeyra Feralov."
Als ich ihn fragen will, wie er das meint, nimmt er den Stift aus meinem Mund und klickt ihn wieder in seine Halterung. Er tritt hinter meinen Rollstuhl.
"Ich möchte dir noch etwas zeigen. Dies war nur ein Anfang."
Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass er den Antrieb des Rollstuhls deaktiviert und den Rollstuhl schiebt.
Er bringt mich in einen anderen Raum. Marrado experimentiert mit Katzen. Genauer gesagt mit Raubkatzen.
Er züchtet sie so, dass sie sowohl reitbar sind, als auch eine Bindung mit einem Menschen eingehen, erklärt er mir. Dazu muss der Mensch eine Kapsel schlucken, die Material aus der Hirnanhangdrüse der Katze enthält. Nanobots schaffen mit Verfahren aus der Bionetic eine mentale Verbindung, indem sie an bestimmte Rezeptoren im Hirn sowie an den endokrinen Drüsen andocken.
"Die Verbindung kann sowohl emotional als auch kognitiv wirken", erklärt er, als er den Antrieb meines Rollstuhls wieder einschaltet, damit ich mich selbstständig im Raum bewegen kann.
"Man könnte sagen, es handelt sich um echte Telepathie als auch Telempathie. "
"Telem-was?"
Marrado lacht. Ein sympathisches Lachen. Vielleicht sollte ich doch auf ihn stehen. Warum tue ich es dann nicht? Trotz seines anmaßenden Verhaltens, stelle ich fest, dass ich ihn mag. Wie schafft er das nur, dass er damit durchkommt?
"Empathie ist die Empfindung von Gefühlen eines anderen. Das Wort Tele steht für eine Übertragung über Distanzen. Darum heißt es Telempathie."
Ich nicke. Wieder etwas gelernt. Auch das fühlt sich gut an. Lernen. Wieso hatte ich mich in den letzten Jahren so zurückgezogen?
Ich kenne die Antwort: Weil ich weder einen Thorsmid noch einen Marrado zu meinem Bekanntenkreis zähle.
Marrado erklärt mir den Stand seiner Forschungen. Er verschweigt, dass die Experimente verboten sind. Aber ich weiß es.
Er zeigt mir im Garten im Innenhof seine Raubkatze, einen Geparden. Ein schneller Läufer.
Ich bin fasziniert. Es funktioniert. Die Katze und Marrado bilden eine Einheit. Er bittet den Geparden die Pfote zu heben, wie er mir erklärt. Kurz darauf tut die Raubkatze genau das.
"Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt, Professor Marrado."
Ich lache. Schon wieder. Es tut gut.
"Sander", bittet er. "Bitte nenn mich Sander. Alle meine Freunde nennen mich so."
Seine Freunde. Ich bin gerührt, obwohl ich nicht will. Er hat etwas Einnehmendes. Man will ihm das Herz zu Füßen legen. Ich muss auf mich aufpassen. Es kommt völlig natürlich von ihm. Ohne Berechnung — glaube ich zumindest.
Er hat eine weitere Katze geschaffen. Einen Leoparden. Ein Weibchen. Er erklärt, dass die Tiere klettern, ja sogar eine ganze Giraffe einen Baum hochschaffen können, um die Beute nicht an andere Tiere zu verlieren — Hyänen zum Beispiel. Doch diese Tiere kenne ich - wie alle - nur aus alten Holos über andere Länder. Viele der Tierarten gibt es inzwischen nicht mehr, sagt die Regierung. Sagt die Schule.
In einem Käfig schlummert das Kätzchen, kaum ein paar Tage alt. Es ist kaum größer, als meine beiden Hände zusammen. Geschaffen aus einer genveränderten Retorte nach dem Vorbild einer echten Leopardin.
Ich bin sowas von fasziniert. Ich bin hin und weg.
Sander überredet mich, eine Kapsel zu schlucken. Ich soll auf diese Weise eine Verbindung zu dem Kätzchen bekommen.
"Ist es ungefährlich?"
Sander lacht.
"Das Kätzchen?"
Ich verdrehe die Augen.
"Leben", doziert er, "heißt, Risiken einzugehen. Wenn du lieber ein langweiliges Dasein willst, leg die Kapsel lieber weg. Wenn du vom Leben geküsst werden willst, dann schluck!"
Ich will nicht weiterhin langweilig sein. Kein langweiliges armseliges Leben. Er hat mich angesteckt, mit seiner überschäumenden Energie. Ich kann es spüren. Er redet von dem Kuss. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, jetzt, da mein Leben mit großer Sicherheit bald endet.
Sander hält die Kapsel vor meine Lippen. Ich öffne sie. Er kommt nicht näher. Ich recke den Hals, um heranzukommen.
Er zieht sie ein Stück zurück.
Ich betätige mit dem Mund den Rollstuhl. Er macht einen Satz nach Vorn. Rammt Sanders Schienbeine.
Meine Lippen schließen sich um seine Finger.
Ich beiße sanft darauf.
Die Kapsel verschwindet ganz in meinem Mund.
"Wow", entfährt es ihm. "Du bist wild. Das gefällt mir."
Er ist so natürlich. Keine Distanz zu einer Behinderten. Ich glaube, er beginnt, mir zu gefallen.
Ich schlucke die Kapsel herunter.
Erst als ich in seinen Armen aus einer Ohnmacht erwache, erklärt mir Marrado, welche Vorzüge die Verbindung hat. Noch ist die Raubkatze ein Kätzchen, das ich an einem Halsband überall mit hinnehmen könnte.
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