Thorsmid erscheint in der Simulation. Ein französisches Restaurant. Er fordert mich zum Tanzen auf. Ich zögere. Er bittet mich und fällt auf ein Knie. Was habe ich zu verlieren? Ein Tango wird aufgespielt. Von einer kleinen Kapelle virtueller Musiker."Ich kann keinen Tango tanzen", maule ich."Aber ich", gibt Thorsmid zurück. "Lass dich einfach von der Musik tragen. Ich führe dich. Dann wirst du sehen, dass du eine fantastische Tänzerin bist."Dann tanzen wir. Hüfte an Hüfte. Seine Hand — ich spüre sie auf meinem Rücken. Wie ist das möglich? Mein Kleid ist dort so tief ausgeschnitten, dass seine Finger auf meiner bloßen virtuellen Haut liegen. Ich habe eine Rose im Mund, ein rotes Kleid, das bis zur Hüfte an der Seite geschlitzt ist; er trägt einen Smoking.
Ich fühle mich lebendig. Während wir tanzen, habe ich die ganze Zeit den Duft der Rose in der Nase. Er wirkt betörend.Es ist das erste Mal seit dem Unfall, dass ich Spaß habe.
Ich lege eine Einlage hin mit Flic Flac, Salto und Schraube. Parkour an der Wand laufend. Mein Kopf weiß noch, wie es sich anfühlte, als ich nicht gelähmt war.Ich stoße einen spitzen Freudenschrei aus. Virtuelle Zuschauer, die fast aussehen, als wären sie echt, applaudieren.
Thorsmid umarmt mich stürmisch. Hält mich am Ende des letzten Takts fest, wie ein Liebhaber. So, wie es der Tanz vorsieht.Ich lache und werfe den Kopf in den Nacken. Die Rose fällt zu Boden.Es endet mit einem Kuss auf den Mund, den Thorsmid mir verpasst. Ich öffne die Lippen und verliere mich.Der Typ ist definitiv hinter mir her. Und was mache ich? Werfe mich ihm an den Hals, wie das nächstbeste Flittchen. Wie Lisa, meine ehemalige Freundin. Sie ließ nichts und niemanden aus. Auch vor Mädchen machte sie nicht halt. Auch mich hatte sie versucht, ins Bett zu kriegen — vor dem Unfall.
Verwirrt finde ich mich im Rollstuhl wieder.
Thorsmid senkt beschämt den Kopf. Es tue ihm leid, murmelt er. Er entschuldigt sich wortreich.
Er hat die Simulation abgebrochen. Er habe meine Freude ausgenutzt, sagt er.
Ich will nach Hause. Ich bin durcheinander. Zählt ein Kuss in der VR - der Virtuellen Realität - genauso viel wie ein echter? Macht mich das zu einer Schlampe? Oder traue ich mich einfach nicht, die Liebe eines anderen anzunehmen, wie es Dr. Mikles, meine Psychologin, so oft behauptet?
Er fährt mich zu meiner Tante zurück. Wieder unter Bewachung.
Posten werden vor dem Haus von Tante Liv zurückgelassen, als sich Thorsmid von mir verabschiedet.
Ich erzähle Liv nichts von dem Tango und dem Kuss.
Onkel Hakon schon garnicht.
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Einladung an den Fjord
Ich habe am nächsten Tag einen Termin, diesmal bei Professor Sander Marrado, dem Bionetic-Experten.
Die Posten nehmen mich mit. Tante Liv bleibt fassungslos zurück. Onkel Hakon ist wieder einmal froh, mich loszuwerden. Seit der Sache im Bad scheint er erleichtert zu sein, wenn ich gehe. Er wird doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen entwickeln?
Ein Flug mit dem Hoverjet bringt mich in einem halbstündigen Flug nach Westen bis an die Küste. Wir landen in Horsund, einem Dorf am Fjord. Der Jet geht direkt vor dem Anwesen von Professor Sander Marrado runter, nachdem die Rotoren in die Waagerechte rotiert sind.
Marrado empfängt mich in seinem Wochenendhaus. Ich bin beeindruckt. So viel Aufwand für mich.
Prof. Bion. Sander Marrado, ist 29. Das habe ich irgendwo gelesen. Vielleicht ist er auch schon 30. Er begrüßt mich. Er trägt lange blonde Haare, zum Pferdeschwanz gebunden. Sein Haar weist einen leicht rötlichen Einschlag auf, wie Feuer. Er ist ein ungemein gut aussehender Typ. Selbst für mich, die ich gute sechs oder sieben Jahre jünger bin. Das macht keinen Unterschied. Er würde mich sowieso nicht wollen. Ich bin ein Versuchskaninchen. Eine Unberührbare im Rollstuhl; mehr nicht. Auch wenn ihm sein Ruf als Verführer vorauseilt, der selbst bei den eigenen Studentinnen nicht halt macht; eines will er garantiert nicht: Eine Romanze mit mir. Und ich nicht mit ihm.
Wieso denke ich überhaupt darüber nach? Ich glaube, die Simulation bei Professor Thorsmid hat mich durcheinandergebracht. Hat er mir irgendwelche Drogen verabreicht?
Ich bin nicht ich selbst - so viel ist klar.
Ich fahre mit meinem Rollstuhl in sein Haus. Die Wachen postieren sich am Eingang.
Er ist freundlich. Marrado begrüßt mich als Tochter der Frau, die er immer bewundert hat. Einer Mutter, die Dinge getan hat, an denen er und Thorsmid immer noch verzweifeln.
Also hat Thorsmid ihm bereits über unsere Gespräche berichtet. Diskretion — Fehlanzeige.
Marrado findet es schade, dass ausgerechnet ich für die Forschung herhalten soll.
Offen erzählt er von sich. Er ist Single. Fährt gern schnelle Autos. Besitzt einen Scorpid - das schnellste Hovercar.
Als er mir anbietet, mich auf eine Spritztour mitzunehmen, erzähle ich von meinem Unfall. Es ist wie eine Obsession. Ich muss die Leute vor den Kopf stoßen. Mitleid erregen.
Es ist ihm peinlich. Er entschuldigt sich für seine Gedankenlosigkeit. Er kennt die Geschichte aus den Nachrichten. Er hat alles darüber verfolgt, sagt er.
Zum ersten Mal erfahre ich, dass das ganze Land daran Anteil nahm, weil meine Mom eine berühmte Persönlichkeit war. Jeder wusste, woran sie forschte. Manche hassten sie, andere dachten, sie könnte die Menschen vom Joch der Regierung befreien. Sie sei eine tolle Frau gewesen, sagt er. Ich könne stolz sein.
Ich weine.
Tröstend nimmt er meinen Kopf zwischen seine großen Hände, als wollte er mich küssen. Lange blickt er mich an und gibt mir schließlich einen Kuss auf die Stirn.
"Verzeih mir, Skeyra", sagt er mit belegter Stimme. "Manchmal bin ich ein echter Hohlkopf."
Ich blinzle meine Tränen weg und bringe ein kleines Lächeln zustande. "Ich dachte, sie wären Professor."
Er grinst schelmisch. "Du hast wirklich viel von deiner Mutter. Sie war wunderschön."
Sein Spezialgebiet ist — neben der Programmierung von Nanobots — der Gefühlsaustausch über Distanzen. Ein unerklärliches Phänomen, das mit Pheromonen, vielleicht auch mit Quantenmechanik erklärbar ist. Die Forschung steht immer noch am Anfang. Praktische Forschung gibt es - wie ich von ihm erfahre - nur durch Marrado, der erste Durchbrüche erzielt hat, und Thorsmid. Die beiden arbeiten eng zusammen. Ob sie auch auf dieselben Frauen stehen? Ob sie sich über das, was Thorsmid getan hat, die Simulation, der Kuss... Die Simulation!
Darüber haben sie telefoniert. Hier läuft doch eine abgekartete Nummer.
Na wartet, ich werde euch schon drankriegen.
In Marrados Haus ist es angenehm. Helle Wände, Holos von anderen Gegenden. Auf einem ist nur Sand zu sehen, soweit das Auge reicht. Dünen aus Sand, eine weite Ebene und klarer blauer Himmel. Ein anderes Holo zeigt einen Eisberg im Meer. Kein Wind geht. Das Wasser ist tiefblau und ruhig. Ich mache eine Bewegung auf dem Eisberg aus. Es ist ein Eisbär, der dahintrottet.
Noch ein Holo mit viel Sand. Ein dreieckiges Gebilde nimmt einen großen Teil der Szene ein. Eine Pyramide. Ich habe davon gehört. Sie soll Ceon zu ehren gewidmet sein, hat Mom immer gesagt. Heute sei das in Vergessenheit geraten. Früher hieß sie die Ceonspyramide.
"Faszinierend, nicht wahr? Ich besitze eine ganze Reihe solcher Holos."
Er hat zu jedem Holo eine Geschichte parat. Ich höre ihm fasziniert zu. Schon bald vergesse ich meine Rachepläne.
Der Ausblick auf das Meer und die langen Ausläufer des Fjords faszinieren mich. Die Eindrücke und die Persönlichkeit Marrados ziehen mich in ihren Bann.
Wenig später sitzt der Professor mit mir draußen auf der Terrasse. Die Sonne steht hoch über dem Horizont.
In der Ferne bläst ein Buckelwal. Eine ganze Schule wird sichtbar.
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