"Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich mit ihr..." Nimor sah über den Rand seiner Brille. "Ich meine, sie sitzt im Rollstuhl. Selbst wenn es dir gelingt, sie zu verführen, wird sie nichts spüren."
Sander setzte wieder dieses verschlagene Grinsen auf, das für ihn so typisch war. "Dann verlierst du eben. Eine Wette ist eine Wette: Wer sie zuerst verführt, hat gewonnen."
Sander sank gemütlich in den Ledersessel zurück. "Außerdem: Die Frau, die nichts fühlt, wenn sie neben - oder unter mir - liegt, muss erst noch geboren werden. Sie haben immer ihren Spaß."
"Und", fügte er an und wies mit dem von der Tasse abgespreizten Zeigefinger auf seinen Kollegen, "du wirst mir dann eine Nacht im Primaton schulden. Die Rundumsicht über die Stadt soll einmalig sein. Eigentlich wäre das ein schöner Ort für eine Nacht mit dieser Skeyra — wenn es nicht so verdammt teuer wäre, selbst für einen von uns."
"Wir sind ganz schön zynisch geworden, mein alter Freund." Nimor sah zu Boden.
"Wir lassen es mit uns machen. Wir arbeiten für die Regierung", Sander wies mit der Tasse in die Runde. "Und genießen einen hohen Lebensstandard. Wir sind Huren der Wissenschaft."
"Wir sollten das ändern", murmelte Nimor Thorsmid.
"Dann sind wir tot", stellte Sander nüchtern fest. "Die Regierung wird das nicht hinnehmen. Insbesondere Reichsverwalterin Angstorm."
"Collen Rievers, ihr Bluthund, ebenso wenig. Ich hasse das. Wir brauchen eine Alternative." Nimor betrachtete wehmütig den whiskygetränkten Flokati zu seinen Füßen.
"Wir sind die brillantesten Köpfe der Wissenschaft und finden keinen anderen Weg, als einer menschenverschleißenden Regierung zu dienen, die unsere Rechte mit Füßen tritt? Soll das alles sein?"
Sander sah auf. "Du hast ausnahmsweise Recht. Wir sollten uns was einfallen lassen."
"Der Widerstand?"
Sander nickte. "Das wäre ein Abenteuer nach meinem Geschmack."
Nimor seufzte. "Wäre zu schön, um wahr zu sein. Lass uns einfach die Ohren offen halten."
Sander erhob sich und schlug seinem Freund auf die Schulter. "Darauf könnte ich einen guten Schluck gebrauchen."
Nimor stöhnte. "Nächste Woche vielleicht. Man, ich habe einen Kater, der für ein ganzes Jahr reicht."
Sander grinste. "Du wirst eben alt."
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Die Vorladung
Professor Dr. Nimor Thorsmid sitzt vor mir: Ein Mittdreißger, volles dunkelblondes Haar. Er trägt es kurz. Seine eckige Brille lässt ihn intellektuell aussehen. Fehlt nur noch eine Pfeife. Doch Rauchen ist auf dem Universitätskomplex von Tylaris verboten.
Fast ehrfürchtig sieht er mich an. Er weiß es: Ich bin die Tochter der Frau, die seine Wissenschaftsdisziplin vorangetrieben hat.
Er sagt nichts dazu. Wir beide wissen auch so, wer ich bin.
"Du hast die Chance darauf, einen neuen Körper zu bekommen.", erklärt er mir. "Jung, sportlich, ein richtiges Leben."
Seine Stimme straft seine Worte lügen. Er wirkt nicht überzeugt. Aber er muss sie aussprechen. Neben ihm steht ein bewaffneter Posten vom Bürgerschutz. Er trägt eine Automatikwaffe. Sie bedeutet wohl eher Drohung als Schutz.
"Was ist das Risiko?", erkundige ich mich und schere mich nicht darum, dass er mich einfach so duzt. Mit 23 bin ich froh, wenn nicht jemand s ie zu mir sagt. Selbst wenn es mein Henker ist.
Er weicht meinem Blick aus. Meine Augen sind das wenige wirklich Lebendige an mir. Ich sitze in einem Rollstuhl, den ich mit dem Mund steuere. Eine spezielle Apparatur an einem Stab, der kurz vor meinem Gesicht endet, macht es möglich.
Ich kann schlucken und muss nicht sabbern, wie ein Kleinkind. Zumindest nicht oft. Ich kann den Kopf ein wenig drehen. Und essen und trinken. Ist doch toll.
Wenn ich meinen Körper sehe, wenn jemand mich wäscht, schaue ich meist weg. Er ist entweder schwabbelig, gerade der Bauch, oder spargeldürr, wie die Beine und Arme.
Ich war immer dünn. Schlank. Als Bodenturnerin ist das Voraussetzung und auch das Ergebnis des intensiven Trainings.
Bei Thor — oder den Sieben, wie Mom immer sagte. Ich habe diesen Sport geliebt. Bodenturnen, Geräteturnen. Und später Parkour. Auch wenn meine Eltern das nicht gerne sahen.
Jetzt bin ich ein Wrack. Geistig, seelisch (wo ist da der Unterschied?) und körperlich erst recht.
Und eine Waise. Aber mit 23 bin ich ja kein Kind mehr. Meine Eltern sind tot. Weil sie bei mir im Auto saßen.
Klingt, wie der Traum eines jeden jungen Mädchens oder?
Der Alptraum wohl eher.
"Worin besteht das Risiko?", frage ich noch einmal.
"Der Tod", murmelt der Professor. "Dein Verstand könnte beim Transfer im Nirwana bleiben. Dein alter Körper, genauer gesagt das Gehirn, kann beim Übergang überlastet werden. Neurologische Schäden als Folge bedeuten ein sofortiges Versagen des Gehirns. Es könnte aber auch gutgehen."
"Habe ich eine Wahl?", frage ich.
"Nein", sagt Prof. Thorsmid tonlos. "Ich wünschte, wir beide hätten eine."
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Eine Chance
Ich brüte in dem sterilen Zimmer, in das ich gebracht werde, vor mich hin.
Die Tür geht auf. Prof. Thorsmid kommt herein.
"Ich habe den Wächter bestochen. Wir können ungestört reden.
Ich bin überrascht. Seine Worte klingen freundlich, er scheint es ehrlich zu meinen. Dennoch warnt mich meine innere Stimme, vorsichtig zu bleiben.
"Woran arbeiten sie?", will ich wissen.
"Ich züchte Körper. Aus DNS von lebenden oder toten Menschen kann ich einen Klon züchten. Er kann mit Maschinen am Leben gehalten werden, doch immer sind die Klone hirntot."
Thorsmid fährt sich mit der Hand durch das kurze dunkelblonde Haar. Seine eckige Brille ohne Rand nimmt er ab. Er wirkt ein wenig fahrig, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Das macht ihn menschlich — anders, als die anderen Mitarbeiter des Ministeriums.
"Bei Mäusen hat es funktioniert. Wie es aussieht, können wir Bewusstsein von einer Maus auf die andere übertragen."
"Woher wissen sie das?"
"Weil die Maus nach dem Transfer keine Hirnaktivitäten mehr zeigt. Die andere hingegen auf einmal schon. Und manchmal bewegen sich die Mäuse sogar und laufen herum."
"Gibt es einen Weg zurück?"
Er schaut auf.
"Du steckt voller Fragen."
"Das ist gut", beeilt er sich zu sagen. "Ich wünschte, meine Studenten wären so wissbegierig."
"Manchmal schaffen sie es zurück", antwortet er auf meine Frage. "Mehr als einmal aber nicht. Bisher. Zumindest nicht bei Mäusen."
"Was passiert, wenn der Geist mehr als einmal zurückgebracht wird?"
Er zuckt die Schultern. Es ist ihm nicht egal. Das sehe ich an seinen Augen. Damit kenne ich mich aus. Er will Zeit schinden. Mir einen Moment geben, um die Wahrheit zu verdauen, die gleich folgen wird.
"Der Kreislauf spielt verrückt, das Herz versagt. Epileptische Anfälle. Schaum vor dem Mund."
Ich nicke. "Das klingt nicht gut."
Wir unterhalten uns lange über bionetische Wissenschaft weiter; es wird spät. Er bittet mich, ihn zu duzen.
Ich tue ihm den Gefallen.
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Übernachtung
Prof. Thorsmid bietet mir an, bei mir im Zimmer zu übernachten. Er will mir Trost spenden.
Welche Absichten hat er wohl bei einer jungen Frau, die sich nicht wehren kann? Hat er mir deshalb das Du vorgeschlagen?
Ich glaube, ich tue ihm Unrecht. Doch ich kann nicht anders. So bin ich nunmal. Es ist ein Teil von mir, den ich nur schwer ändern kann — ich will es auch nicht.
Er hat ein Holokom. Eigentlich bin ich von aller Kommunikation isoliert. Die Regierung will nicht, dass ich mit der Außenwelt Kontakt aufnehme.
Ich wähle die Kombination meiner Tante an. Sie geht ran.
Ich versuchte sie zu beruhigen, obwohl ich hier gefangen bin. Tante Liv ist außer sich.
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