"Du meinst, er hat dir gefallen?", scherzt einer der Jungs, die vielleicht 17 oder 18 sind. Er hat rote Locken und ist dürr wie ein Haferkeks.
Ich muss lachen. Keinem von uns hat er gefallen.
Ehe wir Freundschaft schließen können, kommt Liv hereingestürmt und fällt mir um den Hals. Es ist immer ein wenig kompliziert, mich im Rollstuhl sitzend zu umarmen. Die anderen treten beiseite.
Ich will protestieren, als sie mich in den Flur hinausschiebt. Meinen Laserstift hat sie in die Halterung gesteckt. Rasch ziehe ich ihn mit dem Mund heraus.
Ich schaffe es gerade noch, "Danke" zu schreiben, ehe die Türen hinter uns zufallen.
Auch Liv macht es mir nicht gerade leicht, Freunde zu finden.
Dafür fährt sie mich nach Hause. Geradewegs zu Onkel Hakon.
#
Die engere Auswahl
Vier Wochen sind vergangen. Vor drei Tagen habe ich einen Brief erhalten. Herzlichen Glückwunsch. Ich bin der engeren Wahl.
Ob den Leuten vom Ministerium die Ironie ihres Schreibens bewusst ist?
Oder können sie dort garnicht mehr zwischen ihrem menschenverachtenden Umgang und den eigentlich geltenden Bürgerrechten unterscheiden?
Wie diese Menschen wohl ihre Kinder großziehen?
Vielleicht so, wie Liv und Hakon, meine Tante und mein Onkel.
Ich sitze mit 20 weiteren Schicksalsgefährten in einem sterilen Gang. Nicht alle haben einen Sitzplatz. Ich schon: meinen Rollstuhl.
Wie es aussieht, bin ich die Älteste mit 23. Alle anderen sind jünger. Viele sehen aus, als wären sie erst 16.
Aus jeder der vier Städte haben sie fünf Personen ausgewählt; so viel wissen wir.
Ich habe mitbekommen, wie einer der Beamten mit einer Kollegin sprach. Er wollte sie augenscheinlich beeindrucken. Er sprach von einer Unterhaltung zwischen der Reichsverwalterin und ihrer rechten Hand, dem Leiter des Bürgerschutzes, Collen Rievers.
Demnach sollen unsere Nachnamen dazu geführt haben, dass wir ausgewählt worden sind. Wir seien Nachfahren alter Clans. Was zum Geier ist das für ein Auswahlverfahren?
Vielleicht hat er sich die Geschichte auch einfach ausgedacht, um die Frau zu einem Date zu bewegen.
Auch, dass die beiden führenden Forscher der Bionetic vom Ministerium gebeten wurden, ihre Experimente zum Abschluss zu bringen, hat man uns erzählt — als ob das Ministerium je um etwas bitten würde.
Die Namen der beiden werden in jedem Propaganda-Holo bis zum Erbrechen erwähnt: Professor der Bionetic Sander Marrado und Professor Dr. Nimor Thorsmid.
Zum Ruhme des Landes sollen sie einen neuen revolutionären Meilenstein im Namen der Wissenschaft Norgenons setzen.
Bionetic: die Wissenschaft um den Transfer des menschlichen Bewusstseins in einen anderen Körper.
Das Ministerium unterstützt ihre Forschung, um die geeignetsten Kandidaten hervorzubringen. Den "Auserwählten" winkt Ruhm und im tatsächlichen Sinne: Unsterblichkeit.
In allen vier Städten Norgenons, Tylaris, Trømos, Stava und Hetmark wurden alle Einwohner im Alter zwischen 16 und 24 gebeten, sich einer Befragung zu unterziehen.
In den Propaganda-Holos, oder P-Holos, wie sie kurz heißen, wurde nicht erwähnt, dass nur wenige sich zu den Befragungen freiwillig meldeten, wie es befohlen war. Deshalb wurden überall die infrage kommenden Schüler, Studenten und Arbeiter abgeholt.
Ich erinnere mich, dass ich auf der Fahrt ins Ministerium vor vier Wochen an vielen Stellen Beamte ausschwärmen sah. Der Rest wurde zu Hause abgeholt. So wie ich.
Besser und zynischer geht es nicht mehr. Wir haben keine Wahl. Wir werden gezwungen, wie gezüchtete Laborratten.
Was manche über Flugblätter des Widerstands erfahren haben wollen, macht in der Stadt die Runde. Onkel Hakon hat es erzählt: Man will junge, beeinflussbare Leute, um sie militärisch einsetzen zu können.
Auch ein Junge im Rollstuhl ist hier; wahrscheinlich 16. Aber er kann seine Hände gut einsetzen; er wirkt sportlich.
Man meidet mich, Skeyra, die Behinderte, als sei ich eine Aussätzige. Ich bin es gewohnt.
Nur einer fragt, ob ich etwas brauche. Ich erkenne ihn wieder. Er hat mir geholfen, als mich das Ekelpaket vor vier Wochen aus dem Rollstuhl beförderte. Er wirkt, als wäre er höchstens 18. Vermutlich ist er ein wenig älter.
"Ich bin Magnus", stellt er sich vor. Er greift nach meiner Hand und schüttelt sie mit beiden Händen. Dann legt er meine vorsichtig auf den Oberschenkel, wo sie vorher lag, zurück.
Er hat rote Locken, Sommersprossen und ist dürr wie Spargel. Seine runde Brille vermittelt den Eindruck, er sei der Sohn eines Professors. Ein netter Kerl, wie man ihn gern als Nachbarssohn hat.
"Skeyra", erwidere ich einfach. Es klingt monoton und langweilig aus dem Sprachcomputer.
Ich könnte in der Tat etwas zu trinken brauchen. Er holt mir Wasser aus einem Automaten.
"Ich passe auf dich auf", macht Magnus mir Mut. Wenn dich nochmal einer aus dem Rollstuhl hauen will, kriegt er es mit mir zu tun."
Er zieht einen Elektroschocker ein stückweit aus der Jackentasche und grinst mich an.
Ich trinke die klare perlende Flüssigkeit. Dafür, dass wir im Ministerium sind, schmeckt das Wasser ziemlich gut.
"Immerhin soll die Forschung für einen guten Zweck sein." Er lächelt. Für mich. Ich merke, dass er selbst auch Angst hat und nicht glaubt, was er sagt. Allein dafür hätte er eine Medaille für besondere Tapferkeit verdient.
"Ganz bestimmt", antwortet meine Roboterstimme. "Ich denke, das glaubt niemand hier."
Magnus senkt den Kopf. "Ich bin ein schlechter Lügner."
"Das bist du", antwortet mein Sprachcomputer. "Und ein guter Freund."
Wie mir allmählich bewusst wird, hören die anderen im Gang gebannt zu.
Nun werden wir einzeln hereingerufen. Magnus Ericson ist der erste Name, der genannt wird. Er geht.
Alle anderen strecken ihre Hände nach vorn. Er streift mit seinen Fingern die unserer Leidensgenossen. Eine stumme Geste der Gemeinschaft. Unsere Situation schweißt uns zusammen.
Ein letztes Mal sieht Magnus zu mir zurück. Dann verschwindet er durch die Tür.
Einer nach dem anderen kommt nach der Befragung zurück in den Gang. Legt mir die Hand auf die Schulter. Schleicht sich linkisch aus dem Gang, auf dem Weg nach Haus.
Der Rollstuhlfahrer fehlt. Ihn sehe ich nicht mehr.
Magnus kommt auch nicht heraus. Ewig warte ich, und werde nicht aufgerufen. Selbst wenn, hätte ich auf ihn gewartet.
Dann sind alle drin gewesen. "Sie sind fertig", sagt der Letzte, der herauskommt. Ein gutaussehender Typ, braune halblange Haare, hübsches Gesicht, etwa 20. Jeans und Collegejacke.
Erleichtert, dass ich nicht aufgerufen worden bin, und enttäuscht, weil Magnus nicht kommt, will ich aufbrechen — mit einem schlechten Gewissen.
Eine Frau, blond, langbeinig, ein Männertraum. Vielleicht hat sie sich bis zu ihrem Posten hochgeschlafen. Nicht allzu weit für ihr Aussehen.
Sie streckt den Kopf aus der Tür, durch die alle anderen rein sind. Sie sieht mich. "Ach da haben wir noch eine. Dich haben wir ja fast vergessen, mein Engel", säuselt sie.
Ich bin niemandes Engel. Schon garnicht ihrer.
#
Simulation
Ich bekomme von einem Weißkittel ein Interface aufgesetzt, ein Elektrodenstirnband, das mich in eine Simulation entführt.
Kameras sind auf mich gerichtet, blinkende rote Lichter zeigen an, dass sie alles aufzeichnen werden.
Bestimmt sieht jemand zu. Sind die Beamten zu feige, um mir ihre Gesichter zu zeigen? Kommen sie mit meinen Kommentaren nicht klar?
Ich sehe Gebäude vor mir, die eindeutig von einem Computer erzeugt sind. Unecht, zu regelmäßig. Kalt, digital,
Ich fühle meine Hände, bewege die Finger.
Ich kann aufstehen und umherlaufen. Wann habe ich so etwas zum letzten Mal gespürt?
Ich weiß es. Auf der Fahrt ins Holokino. Während der letzten Minuten im Leben meiner Eltern.
Читать дальше