Wir tranken immer viel Wasser, denn es machte Olav und mir großen Spaß, in die Nordsee zu pinkeln. Unter Wasser holten wir unsere Schniepel aus der Badehose und pissten uns gegenseitig an. Wer länger pissen konnte, hatte gewonnen. Wenn weniger Betrieb am Strand war, legten wir uns ins flache Wasser und pinkelten hoch in die Luft. Dabei gewann, wer höher pisste, klar.
Die Königsdisziplin bestand darin, Detlev anzupissen, wenn er nicht damit rechnete, wenn er im Sand eingeschlafen war oder am Wassersaum vor sich hin grübelte. Dann schlichen wir uns beide leise von hinten an wie die besten Sioux-Krieger. Rasch holten wir unsere Schniedel heraus und pissten zusammen los – auf Detlevs Rücken, auf seine Haare, und wenn er sich wutschäumend umdrehte, auf seinen dicken Schwanz in der Badehose. Wir erwischten ihn immer wieder, obwohl er doch längst hätte gewarnt sein müssen. Er tobte dann wütend und hechtete hinter uns her, dabei tropfte unsere Pisse von seinem Körper.
All das war nicht sexuell gemeint, sondern einfach ein schweinischer Riesenspaß. Jedenfalls dachte ich das damals.
Sophie nahm unsere Spielchen nicht zur Kenntnis. Sie saß in einem Strandkorb und schrieb Liebesgedichte – ja, tatsächlich.
Sie stammte aus dem Schwarzwald, war eine zierliche, hübsche, dunkelhaarige Frau mit braunen Augen. Außer einem Jahr Hauswirtschaftsschule hatte sie keine Ausbildung. Ihre vornehme, badische Familie war im Zweiten Weltkrieg völlig verarmt, deshalb war sie froh gewesen, dass der reiche Gustav van Heeren sie geheiratet hatte. Sie mochte die Landwirtschaft nicht, im Gegensatz zu Clara, Gustavs erster Frau, die eine stämmige, resolute Gutsbesitzertochter gewesen war, wie die älteren Mägde erzählten. Clara – schwarzlockig mit blauen Augen, so wie Detlev – war 1949 mit nur neunundzwanzig Jahren gestorben. Kaum hatte man sie unter die Erde gebracht, heiratete Gustav neu, eben Sophie, um seinem und Claras neunjährigem Sohn Detlev eine neue Mutter zu geben. Sophie war zehn Jahre jünger als Clara und dreißig Jahre jünger als Gustav, der alte Knochen. Trotz des oft harten Landlebens wirkte sie immer wie ein junges Mädchen.
Traditionell hatte die Gutsherrin, neben anderen Aufgaben, die Apfelsafterzeugung zu organisieren. Außer der Milchwirtschaft gab es auf dem Gut große Bestände von alten Apfelbäumen. Zur Erntezeit mussten die Mägde die Apfelpresse bedienen und den Saft in Flaschen füllen. Der wurde nach Leer verkauft, genauso wie die Milch, die an die deutsche Filiale der US-amerikanischen Konservenfabrik Libby's in Leer ging. Die berühmten Kondensmilch-Dosen mit der Kuh drauf von Libby's gehörten zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen.
Im Gutshaushalt gab es auch viel frische Milch und Sahne aus eigener Produktion – Material für weitere Spielchen von Olav und mir. Oft klauten wir warme Milch direkt vom Melken, zogen uns am Karpfenteich nackt aus, begossen uns gegenseitig damit und leckten sie von der Haut des anderen ab. Im Herbst nahmen wir auch Apfelsaft dafür. Wenn Rieke Sahne für den Sonntagskuchen geschlagen hatte, stibitzten wir etwas davon. Im Wäldchen nahmen wir die Schlagsahne dann in den Mund und prusteten sie dem anderen ins Po-Loch. Das gab eine herrliche, klebrige Sauerei. Olav pinkelte mir danach an den Hintern und »wusch« so alles ab, und ich machte es bei ihm genauso. Danach badeten wir im Teich.
Und all das hatten wir in aller Unschuld gemacht.
Auch wegen dieser Erinnerungen saß ich so gern allein am Karpfenteich. Denn jene himmlischen Zeiten waren 1968 lange vorbei. Die Nordseereisen waren seit Jahren eingestellt worden. Olav ging inzwischen aufs »Gymnasium für Jungen« in Leer, wo er im Frühjahr 1969 das Abitur machen sollte. Die mehr als zwanzig Kilometer nach Leer wurde er täglich von Gustavs Stallmeister mit dem Wagen gebracht. Früher, als wir noch gemeinsam die Grundschule im fünf Kilometer entfernten Hesel besucht hatten, waren wir nebeneinander her mit dem Rad gefahren. Tatsächlich hatte sich viel verändert, seit Olav mit dem Gymnasium und ich mit der Realschule in Hesel begonnen hatten. Die schönen, schweinischen Spiele hatten aufgehört, wir waren einander immer fremder geworden. Und nun, am Abendbrottisch, sah er mich nicht einmal mehr an.
Während ich im Essen stocherte, redete Gustav mit Sophie über den Verkauf einiger Kälber. Das interessierte mich herzlich wenig. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass jemand mich anstarrte. Vorsichtig schaute ich noch einmal zu Olav. Doch der beachtete mich immer noch nicht. Mein Blick wanderte zu Detlev. Ja, Detlevs schöne, blaue Augen leuchteten zu mir herüber wie noch nie in all den Jahren. Als mein Blick seinem Blick begegnete, guckte er schnell weg.
Etwas begann in mir zu wühlen. Interessierte Detlev sich etwa für mich? Er, Gustavs achtundzwanzigjähriger Stammhalter und Lieblingssohn, zukünftiger Vater einer Schar von Van-Heeren-Kindern? Dieser neue Gedanke machte mich heiß. Bis dahin war Detlev mir als unerreichbarer Frauenverehrer erschienen, der seine nur zehn Jahre ältere Stiefmutter galant behandelte und seine Mitstudentinnen in Bonn bestimmt reihenweise flachgelegt hatte. Die Möglichkeit, dass ausgerechnet er an einem Mann Gefallen finden könnte, verwirrte mich mehr als alles andere bisher. Denn sein Blick hatte mich stark an Bents Blick erinnert, als der zu Eibo gesagt hatte: »Ich will dich ficken!«
Ich ließ den Rest meines Essens stehen, ich bekam keinen Bissen mehr herunter. Nachdem Gustav die Tafel aufgehoben hatte, verdrückte ich mich rasch hinauf in meine Kammer. Als ich gerade meine »Galauniform«, wie ich meinen Anzug im Stillen nannte, aus- und eine einfache Hose angezogen hatte, klopfte jemand leise an meine Tür.
»Ja!«, sagte ich aufgeregt.
Wirklich kam Detlev herein. Den Schlips und das Jackett hatte auch er abgelegt. Ich sah seine starken Bizepse in den weißen Hemdärmeln. Sein Gesicht war so schön, die große, leicht gebogene Nase passte ausgezeichnet zu seiner hohen, klaren Stirn und dem energischen Kinn mit dem dunklen Bartschatten. Seine Wangen wirkten jetzt etwas erhitzt.
»Ich wollte mal mit dir reden, Tiede«, erklärte er leise.
»Worüber?«
Seine Augen schienen zu glitzern – vor Erregung? Oder bildete ich mir doch alles nur ein?
»Nicht hier! Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«
»Okay!« Ich nahm keine Jacke mit, der Abend war wieder sehr mild.
Wir wanderten im Dunkeln über die Wiesenwege des Gutes und an einem der Fehnkanäle entlang, die es in Ostfriesland massenhaft gibt. Das sind Wassergräben, die bei der Besiedlung vor langer Zeit ausgehoben worden waren, um die großen Moorflächen trockenzulegen.
»Tiede …«, begann Detlev. Dann schwieg er erst mal wieder.
»Was ist?«
»Ich … also, ich hab dich gestern Abend gesehen …«
»Du siehst mich doch jeden Tag.« Ich gab mich nur so forsch, in Wahrheit ahnte ich Schreckliches.
»Aber nicht jeden Tag am Karpfenteich!«
Ich musste schlucken. »Ja, und?«, rang ich mir ab.
Er blieb stehen und sah mich an – lauernd? Triumphierend? Oder hatte er mich etwa an seinen Vater verraten, mit dem er sich ja so gut verstand?
»Du darfst jetzt nicht erschrecken, Tiede«, sagte er, als ob er meine Gedanken erraten hätte. »Ich hab gesehen, dass du den beiden Knechten zugeguckt hast.«
»Welchen Knechten?«, murmelte ich, dabei dachte ich, dass ich gleich in Ohnmacht fallen müsste.
»Tiede … du kannst Vertrauen zu mir haben! Ich sage nichts weiter! Und du … darfst auch nichts weitersagen!« Den letzten Satz hatte er fast flehend ausgesprochen. Nur der bleiche Mondschein beleuchtete Detlevs Gesicht, doch ich erkannte genau, dass er alles ernst meinte, was er sagte.
»Was … was meinst du?«, stotterte ich fast tonlos.
Da zog er mich auf einmal an seine Brust. Mein Herz raste wie toll, mein Schwanz wuchs in Sekunden. Wir standen eng umschlungen am dunklen, einsamen Fehnkanal. Seltsamerweise erinnere ich mich daran, dass das moorige Wasser besonders laut rauschte. Detlev streichelte meinen Rücken, dann meinen Po durch den Hosenstoff. Es war das erste Mal, dass ein Mann mich so berührte, und nicht irgendein Mann, sondern der schöne, starke Detlev van Heeren.
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