Lydia, die nicht hinnehmen konnte, dass ein Mann wie Silverman die Arbeit einer ganze Abteilung durch Verrat massiv durchkreuzte, fühlte sich von Tosh O’Brian nicht genügend verstanden und hatte deshalb Luke Sawyer in das Problem eingeweiht. Luke, der als ein harter, aber loyaler Typ galt, betrieb keine Geschäfte in Silvermans Art und war über die Enthüllung aufrichtig bestürzt. Sie verdarb ihm die Aussicht auf einen abwechslungsreichen Abend, an dem er sich wie ein geladener Gast unbeschwert unter die Menge mischen und sich über das üppige kalte Buffet hermachen konnte.
Gerade als Lydia ein unrühmliches Psychogramm über Silverman zeichnete und meinte, „für mich ist er nichts als ein frustrierter, dicker Mann ohne Frau und Familie in einer permanenten Psychokrise, der ein halbes Leben unter der Fuchtel autoritärer Vorgesetzter gestanden hat und die Lösung aller Probleme in einer möglichst großen Summe Geld erkennt“, öffnete sich eine Seitentür, durch die der innere Zirkel um Abrahams und Young den Festraum betrat. Kurz bevor Luke zum anderen Ende des Saals hinüberging, um sich, wie es seiner Aufgabe entsprach, in der Nähe von Abrahams Sitzplatz zu positionieren, antwortete er mit bösem Zynismus:
„Ist das denn irgendetwas Besonderes, Lydia? Was haben Menschen im Laufe der Geschichte nicht schon alles für Geld getan. Vielleicht werde ich mir den Verräter einfach selber vorknöpfen und ihm eine Falle stellen!“
Lydia nahm die Drohung ihres Kollegen zufrieden auf und beobachtete, wie der große und schlanke Eric Young mit überheblichem Blick als erster in die Mitte des Saals stolzierte und sich vor den etwa 150 Anwesenden so präsentierte, als würde er der große Gewinner und absolute Mittelpunkt des Abends sein. Jedermann wusste, dass er eher wegen seines passenden Auftretens als wegen seiner Fähigkeiten zum Gesicht von LOGO geworden war und im Grunde nur ein gut bezahlter Schauspieler war. An der Stirnseite des riesigen Saals, an der man durch eine voll verglaste Wand die Lichter Manhattans in der dämmerigen Tiefe sah, trat Jessica Mayfair, die Pressesprecherin von Independent Internet, an ein Rednerpult und verkündete mit ein paar blumigen Worten den erfolgreichen Vertragsabschluss. Dieser wurde daraufhin durch ein mehrfach wiederholtes Händeschütteln von Abrahams und Young einige Minuten lang im Mittelpunkt des Saals in Szene gesetzt, sodass einige anwesende Fotografen genügend medienwirksame Bilder aus verschiedenen Perspektiven aufnehmen konnten. Die Gäste hatten dabei einen großen Kreis um die beiden Hauptpersonen und ihr Gefolge gebildet und klatschten artig zu der Presseerklärung, die später noch durch einen Sprecher von LOGO fortgeführt wurde.
Nach der Show nahmen alle die ihnen zugewiesenen Plätze an zwei langen Festtafeln ein, um einer Ansprache von Abrahams’ Sohn Theodore zuzuhören. Während Theodore vor dem Publikum, das vor allem aus leitenden Angestellten beider Konzerne, diversen Firmenvertretern, Journalisten, Politikern und Freunden der Abrahams-Familie bestand, eine nicht sehr viel sagende Rede hielt, die von der Public-Relations-Abteilung ausgearbeitet worden war, hatten sich Abrahams und Young an einen der beiden Tische gesetzt und bei einem Glas Champagner ein kurzes Gespräch begonnen.
Young, der sich noch immer nach allen Seiten wie ein strahlender Sieger darstellte, sah mit seiner samtenen, lilafarbenen Krawatte, dem teuren Maßanzug und den spitzen, glänzenden Schuhen wie ein großer Dandy aus, der von grinsenden Posen und medienwirksamen Auftritten erheblich mehr als von Geschäften verstand. So war auch das gesamte Szenario für die Geschäftsübernahme nicht von ihm selber ausgearbeitet worden, sondern von einem scheinbar unabhängigen Think Tank, der in Wahrheit der United States Intelligence Community nahe stand. Er hatte fast permanent ein überhebliches und spöttisches Grinsen im Gesicht, das nicht nur der gesamten Veranstaltung, sondern auch Leo persönlich galt, den er in der Art des vermeintlichen Gewinners ziemlich von oben herab ansprach:
„Nachdem nun alles unterschrieben ist, brauchen wir uns zum Glück nichts mehr vorzumachen, Leo. Sie sollten nicht so böse in die Gegend blicken, als ob Ihnen irgendetwas Schlimmes geschehen wäre. 7 Milliarden für Ihr defizitäres Internet sind wie ein großes Geschenk, für das Sie den Fotografen wenigstens ein kleines Lächeln schenken könnten!“
„Ihr aufgesetztes Grinsen verhindert jedes aufrichtige Lächeln, Eric. Irgendwann haben Sie bestimmt genug davon, bloß einen gut bezahlten Darsteller abzugeben, der sich auf allen Veranstaltungen wie ein Popstar beklatschen lässt, obwohl er selber noch niemals wirklich etwas geleistet hat. Ich glaube in Ihnen könnte wirklich etwas stecken, sobald man Ihnen eine echte Chance gibt!“
Abrahams musste selber über seine Worte lachen, durch die er Sarkasmus, Beleidigung und einen kleinen Rest von Menschenfreundlichkeit originell durchmischte. Den abrupten und extremen Wechsel des Tonfalls nach der Zeit des seriösen Verhandelns empfand er als nichts Besonderes, da er damit in seinem langen Geschäftsleben schon oft genug konfrontiert worden war.
„Ihre Undankbarkeit gefällt mir nicht, Leo“, entgegnete Young, der hinter seiner arroganten Fassade insgeheim Respekt vor dem 25 Jahre älteren Abrahams empfand, leicht beleidigt und schüttelte mit gespielter Fassungslosigkeit grinsend den Kopf. „Es mag sein, dass der amerikanische Markt nicht wirklich frei ist, aber wenigstens zahlt man in den USA noch immer sehr anständig, während Leute wie Sie in anderen Ländern manchmal einfach enteignet werden.“
„Wissen Sie, Eric, zum Glück ist die ganze Geschichte für mich halb so schlimm. Ich sehe mich selbst als einen alten Spieler und da ich in meinem Alter noch immer nicht müde bin, werde ich nun eben meine Chance in East-West-Water sehen. Vielleicht hat es am Ende sogar etwas Gutes an sich, weil ein neues Spiel für einen alten Spieler neues Glück und frischen Mut mit sich bringt!“
Abrahams Bemerkung entsprang nicht nur dem Versuch überlegene Gelassenheit zum Ausdruck zu bringen, sondern stellte auch eine bewusste Irreführung dar: In Wahrheit sollte ja sein „Spiel“ mit East-West-Water nur wenige Tage dauern, da er - wenn alles glatt lief - seine Mehrheitsanteile sofort an die Chinesen weiter veräußern wollte.
Noch während Young nach einer passenden Antwort suchte, trat Carl Dubridge zu ihnen an den Tisch, der bei der Vertragsunterzeichnung offiziell als Rechtsberater aufgetreten war. Der kantige, fast glatzige Mann hatte ein kaltes, ausdrucksloses Gesicht und war einer von jenen unheimlichen Leuten, über die viele gar nicht wussten, wer sie eigentlich waren und welche Absichten sie verfolgten. In Wahrheit war er inoffiziell für die Wahrung bestimmter, geheimer Interessen in der Konzernleitung von LOGO zuständig und verbreitete eine besondere Aura von Autorität um sich, da er als hoher Funktionär der Intelligence Community großen Einfluss besaß. Auch er hatte die Aufnahmen von Dembski und Agneschka längst gesehen, die Walter Silverman vor einer Woche an den Leiter der New Yorker CIA-Vertretung Howard Doyle geschickt hatte, weshalb er an diesem Abend eigens erschienen war, um eine ernste Warnung an Leo Abrahams zu richten.
„Sie kennen ja Mr. Dubridge bereits. Er bat mich darum, ein kurzes Gespräch mit Ihnen zu vermitteln, weswegen ich mich für ein paar Minuten zu den Journalisten zurückziehen werde“, erklärte Young bei Dubridges Erscheinen sofort und sprang auf. Da nirgendwo mehr ein passender Platz frei war, ließ Dubridge sich kurzerhand auf Youngs Stuhl nieder, sodass Abrahams gezwungen war seinen leisen und vertraulichen Worten zuzuhören, die er ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren in einem unangenehm eindringlichen Tonfall vorzutragen begann:
„Ich freue mich sehr, endlich einmal persönlich mit Ihnen sprechen zu können, mein lieber Abrahams!
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