Einige Stunden später landete sie wohlbehalten auf dem Flughafen Arturo Merino Benítez in Santiago de Chile, der einige Kilometer außerhalb des Zentrums der von einigen Millionen Menschen bevölkerten Metropole lag. Der Transfer in die Orbitalstation SILVERCONDOR und von dort zurück auf die Erde war reibungslos verlaufen. Niemand war ihr gefolgt oder hatte nach ihr gefragt. Erleichtert verließ sie das Flughafengelände, warf noch einmal einen Blick auf das atemberaubende Panorama der Anden, die Santiago de Chile mit weißgekrönten schroffen Spitzen umschlossen, bevor sie in den Bus stieg, der sie in die Innenstadt bringen würde. Das Ticket dafür hatte sie selbstverständlich bar bezahlt. Die Alameda Bernardo O´Higgins führte einmal quer durch die halbe Stadt, vorbei an bunt gestrichenen Jugendstilfassaden. Die Strecke, die der Bus nahm, gab ihr einen lebendigen Eindruck vom Alltagsleben in Santiago. Eine Besichtigungstour der Extraklasse. Leider hatte sie für mehr keine Zeit, obwohl sie gerne ein paar Tage geblieben wäre um auf den Cerro San Cristóbal zu fahren oder im Viertel Bellavista in einem der gemütlichen Restaurants etwas zu essen. Es war besser für sie die Stadt sofort wieder zu verlassen und weiter in den Süden des Landes zu reisen. Im Kleinen Süden von Chile war sie noch nie gewesen. Puerto Montt war angeblich sehr schön. Die ganze Gegend dort wurde auch die chilenische Schweiz genannt. Esmeralda Parador war ziemlich gespannt auf die kleine Stadt, die gerade einmal um die 140.000 Einwohner hatte. Früher waren es etwas mehr gewesen, aber in den Chaosjahren war das Wetter so unbeständig geworden, dass viele weiter nach Norden gezogen waren. Trotzdem sah Puerto Montt wohl fast noch so aus, wie um die Jahrtausendwende. Sie würde es bald wissen. Erstaunlicherweise hatte der gestiegene Meeresspiegel kaum Auswirkungen auf die Stadt gehabt, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass sich das Gelände nach einem großen Erdbeben etwas angehoben hatte.
In Los Héroes, wo der Flughafenbus endete, nahm Esmeralda Parador die Metro und fuhr bis zur Station Universidad de Santiago. Dort befand sich das Abfahrtterminal für die Züge in den Süden Chiles. Nachdem sie sich noch ein letztes Mal umgesehen hatte, stieg sie in den Zug und suchte sich ihren Platz. Ihre Kollegen von der Organisation hatten die Zeit genau richtig eingeschätzt. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Zug losfuhr. Erleichtert lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und betrachtete durch das Fenster die vorüberhuschende Landschaft. Schade, dass der Zug in Temuco endete. Den Rest bis Puerto Montt musste sie mit dem Überlandbus fahren. Aber alles in allem sollte es für sie möglich sein in Puerto Montt anzukommen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Von all dem hatte Ullisten Getrillum, der immer noch seinen irdischen Decknamen Ramirez Estar benutzte, in den Weiten des kanadischen Nordens kaum etwas mitbekommen. Vielleicht hätte er sich eine neue Identität zulegen sollen, aber die Erfahrung mit dem Mann, der sich "Boss" nannte, reichte ihm eigentlich. Und jetzt war nicht einmal Maria Lautner da, um ihm zu helfen. Die Monate, die er zusammen mit Serge Massin über die Eisstraßen gefahren war, hatten deutliche Spuren bei ihm hinterlassen. Er fühlte sich gehetzt und müde und sehnte sich nach einem Ort, an dem er ein wenig Ruhe finden konnte. Kein Wunder, dass er schon lange nicht mehr auf die täglichen Katastrophenmeldungen achtete, über die die irdischen Nachrichtensender täglich berichteten. Auch auf dem Weg nach Chile war er so mit seiner Flucht beschäftigt gewesen, dass er den Gerüchten über Alienattacken nur mit einem Ohr zugehört hatte, die sich die Matrosen auf dem Frachtschiff erzählt hatten, das ihn nach Antofagasta gebracht hatte. Möglicherweise lag es daran, dass er im Gegensatz zu Menschen keine Probleme mit der Existenz von Außerirdischen hatte und für ihn die Tatsache, dass sich auf der Erde angeblich Aliens herumtrieben keine Sensation war. Natürlich würden die Adschirr´arr nicht einfach aufgeben, schließlich wollten sie das Siegelstück haben und sie wollten ihn finden. Sichtungen blieben da also nicht aus, zumal sich diese räudigen Kanny nicht gerne zurückhielten, was sie aber erstaunlicherweise taten. Irgendetwas musste in der Liga los sein, dass die Adschirr´arr diesen Planeten noch nicht überrannt hatten. Immerhin hatten sie in den ersten fünf Jahren auf frisch entdeckte Sternensysteme umfangreiche Kaperrechte. Zu dumm, dass er seinen Kommandanten, Manri Rubellicum, nicht erreichen konnte. Ullisten Getrillum hing noch eine Weile seinen düsteren Gedanken nach, während er auf das Boarding wartete.
Es war bereits später Nachmittag, als das Shuttle endlich startklar war, das sie zur Orbitalstation SILVERCONDOR bringen sollte. Soweit ihn sein neuer Arbeitgeber Los Morrenos informiert hatte, sollten sie dann von dort in einem anderen Shuttle zum Mond weiterfliegen. Ullisten Getrillum hob den Kopf in den Nacken und starrte angespannt in den langsam dunkler werdenden Himmel hinauf. Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu. Ullisten Getrillum kniff die Augen zusammen. Weit oben am türkisblauen Firmament konnte er einen winzigen Punkt erkennen. Es war die Orbitalstation. Für menschliche Augen war sie ohne Hilfsmittel nicht zu erkennen, aber für seine verbesserten Sehkräfte schon. Er löste den Blick wieder von dem grauglänzenden Fleck, da das nicht viel brachte. Stattdessen suchte er angestrengt die Umgebung nach Verfolgern ab, aber es viel ihm nichts auf. Der Stress der letzten Tage, das Eingesperrtsein auf dem Frachtschiff, die ständige Ungewissheit, ob er seine Jäger hatte abschütteln können, hatte ihn ganz schön geschlaucht. Dazu noch die haarsträubenden Untersuchungen im Firmenlabor, die seine Nerven ebenfalls ziemlich strapaziert hatten. Wenn er richtig darüber nachdachte, dann war er nur noch auf der Flucht gewesen, seit er diesen Planeten betreten hatte. Es wurde Zeit, dass er ein sicheres Versteck fand. Hoffentlich hatte er auf dem Mond seine Ruhe vor seinen Verfolgern.
Einige der wartenden Passagiere eilten an ihm vorbei. Ullisten Getrillum sah ihnen nervös hinterher, entspannte sich aber gleich wieder. Auf der Aussichtsplattform des Zentralgebäudes dieses winzigen Flughafens in der chilenischen Atacamawüste gab es ein einfaches Teleskop, das in einer Ecke montiert war. Die Fluggäste scharten sich aufgeregt um das astronomische Gerät, jeder wollte einmal hindurchsehen. Ullisten Getrillum überlegte kurz, ob er sich der Traube von Menschen anschließen sollte, ließ es aber dann sein. Da nicht alle Menschen danach gierten sich die Raumstation durch ein Teleskop anzuschauen, würde er nicht auffallen, wenn er es bleiben ließ. Neugierig musterte er die Reisenden, die ebenso wie er auf den Abflug des Shuttles warteten. Die meisten waren Arbeiter der Mine, was ihn nicht verwunderte, gehörte der Raumhafen doch Los Morrenos. Aber es gab auch ein paar Geschäftsreisende, Touristen und welche, die aussahen wie Wissenschaftler. Sie alle wollten zur Orbitalstation SILVERCONDOR, die in einer geostationären Umlaufbahn langsam ihre Kreise um die Erde zog. Es gab noch drei weitere Stationen, die sich auf festgeschriebenen Bahnen synchron zueinander im Orbit auf einer Höhe von etwa 300 Kilometern bewegten und den Passagiertransfer für die anderen Kontinente abwickelten. Es gab sogar Querflüge von einer Station zur anderen, was Ullisten Getrillum bei dem technologischen Stand den die Menschheit erreicht hatte für eine erstaunliche Leistung hielt. Dabei bedienten die Orbitalstationen SILVERCONDOR und DIDGERIDOO die südlichen Erdteile, während SPACEGULL und ICECUBE für die nördliche Hemisphäre zuständig waren.
Ullisten Getrillum konnte sich noch gut an die Orbitalstationen erinnern, da er bei seiner Ankunft auf diesem Planeten an ihnen vorbeigeflogen war. Die vier Stationen waren ziemlich bizarre Gebilde und hingen wie große silbrig glänzende Quallentiere vor dem samtschwarzen Hintergrund des Alls. Ihre Sonnensegel, mit denen sie Energie erzeugten, zogen sie hinter sich her wie die giftigen, massenhaft in den irdischen Ozeanen beheimateten Nesseltiere ihre Tentakel. Die Sonnensegel bestanden aus filigranen Netzen, die dem Beschuss der aggressiven Raumstrahlung und winzig kleinen Teilchen aus Staub, menschlichem Abfall und Meteoritenstückchen kaum standhalten konnten. Die Techniker waren ständig damit beschäftigt, die Schäden zu reparieren, primitive krabbelnde Roboter an ihrer Seite, die ihnen einen Teil der lebensgefährlichen Aufgabe abnahmen.
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