Esmeralda Parador warf einen kurzen Blick auf den in die Kabinentür eingelassenen Bildschirm, der Bilder von der Orbitalstation zeigte. Routineinformationen. Es war nicht das erste Mal, dass sie zu einer der Orbitalstationen flog, aber sie mochte es trotzdem nicht besonders. Die Andruckkräfte während der Startphase waren unangenehm und ihr wurde immer ein wenig übel davon. Außerdem war es stickig und es roch nach Chemikalien und abgestandener Luft auf diesen Stationen. Leider war es der einzig schnelle Weg auf die andere Seite der Erde. Seufzend lehnte sie sich zurück und versuchte sich zu entspannen, während die Maschine auf das Startfeld rollte.
Ihre Gedanken beschäftigten sich mit den letzten Monaten und blieben bei Ramirez Estar hängen. Ob er wohl entkommen konnte? Wo er wohl jetzt war? Vermutlich würde sie das niemals herausfinden und sie sollte ihn einfach vergessen, auch wenn er ein netter Mann gewesen war. Das mit diesem ganzen Außerirdischengeplapper verdrängte sie einfach. Jedenfalls hatte sie ihn gemocht, aber sie würde ihn sowieso nie wiedersehen, weshalb also weiter Energie dafür verschwenden. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Außerdem war sie irgendwie erleichtert, dass sie aus der Sache raus war. Ramirez Estar war ihr ungewöhnlichster Auftrag gewesen, den sie bis jetzt ausgeführt hatte. Das was in Chile kam war Routinearbeit, auch wenn sie sich in den Dunstkreis des in ihren Augen gefährlichsten Verbrechers der Welt begeben würde. Doch davor hatte sie keine Angst. Als Ghost war sie richtig gut.
Das Shuttle startete und ein paar Minuten später übernahmen die Andruckkräfte für sie das Denken. Es gab einen kleinen Hüpfer in ihrem Magen, als sie in die Schwerelosigkeit eintraten. Ihre magnetischen Sohlen hielten sie am Boden fest. Auf dem Bildschirm wurde nun das Anflug- und Andockmanöver eingeblendet. Esmeralda Parador nutzte die Zeit, um den Inhalt des Briefumschlages zu inspizieren, der noch in der Mappe gewesen war. Er enthielt eine handgeschriebene zusammengefaltete Notiz. Überrascht zog sie den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. Eine Buchungsbestätigung für einen sechswöchigen Intensivspanischkurs, ein Zugticket nach Puerto Montt und einen Kreditkartenchip samt ECOS-Logo auf den Namen Esmeralda Parador fielen ihr entgegen. Auf dem Zettel stand in feinsäuberlicher Schrift eine Adresse in Puerto Montt. Das sah nach einem Appartement aus. Also kein Hotel. Sie musste lächeln. Der Erzbischof hatte wirklich an alles gedacht. Weitere Instruktionen gab es nicht. Es blieb ihr also selbst überlassen, wie sie sich in das Umfeld von Manfredo Cortez y Diega hineinarbeitete und sie wusste auch schon, wo sie anfangen würde. Sobald sie lange genug untergetaucht war und annähernd perfekt Spanisch sprach, würde sie in den Norden von Chile reisen. Das Bild einer schönen Frau erschien vor ihrem geistigen Auge, Lisa von Waldrow-Pagini.
Seit ein paar Wochen gab es eine Arbeitsgruppe innerhalb des britischen MI6, die sich um Ramirez Estar kümmern sollte und um Maxim Grey, der sich wieder einmal ins Fettnäpfchen gesetzt hatte. Der Syrische Geheimdienst war bezüglich des jungen Mannes richtiggehend penetrant geworden und das hatte die Formulierungskünste des Außenministers und die politischen Beziehungen beider Länder arg strapaziert. Schließlich konnten sie sich darauf einigen, dass für beide Männer ein Einreiseverbot erteilt wurde. William Samford seufzte vernehmlich bei dem Gedanken daran, wieviel Ärger die beiden ihm bereitet hatten. Ursprünglich hatten sie Ramirez Estar und Maxim Grey in Margate verhaften wollen, was dann allerdings gründlich schiefgelaufen war. Dass Syrien im Fall Estar so schnell eingewilligt hatte es bei einem Einreiseverbot zu belassen, zeigte ihm deutlich, dass eine Beteiligung des Mannes an den Anschlägen in Syrien nur ein Vorwand gewesen war, um ihn verhaften zu können. Was dann allerdings hinter der ganzen Aufregung steckte, hatte er leider nicht herausfinden können. Auch die Befragung des Kapitäns des Frachtschiffes, der seine Hände in Unschuld gewaschen hatte, hatte nichts erbracht. William Samford war sich aber von Anfang an sicher gewesen, dass der Kapitän gelogen hatte. Keiner der seine sieben Sinne beieinander hatte, wäre bei so einem Wetter freiwillig in ein Ruderboot gestiegen, noch dazu im Ärmelkanal. Leider hatte er keine Handhabe gegen den Kapitän gehabt und Ramirez Estar war ihnen nun endgültig entkommen. Dass die Beiden ihre abenteuerliche Flucht vor der südenglischen Küste überlebt hatten, grenzte an ein Wunder. Selbst die Küstenwache war der festen Meinung gewesen, dass die See viel zu rau dafür war, es mit einem Ruderboot an Land zu schaffen. Und doch war es so.
William Samford bedauerte es fast. Nicht weil die Beiden noch lebten, sondern weil er jetzt diesen ganzen Mist am Hals hatte. Hätten die beiden Männer nicht das seltsame Goldstück eingetauscht, dann hätten sie niemals mitbekommen, dass die Beiden ihr haarsträubendes Abenteuer überlebt hatten und er hätte den Fall zu den Akten legen können. Jetzt saß Maxim Grey in einer Verwahrzelle des MI6. Leider wollte Maxim Grey partout nichts über Ramirez Estar preisgeben. Am Ende hatte er Major Eleanor Hunt von der Special Force Unit ENU, einer Spezialabteilung der CIA, um Hilfe bitten müssen, da sich die Briten und die Kanadier seit den Ereignissen in den 2050er Jahren immer noch nicht sonderlich gut verstanden. Bedauerlicherweise hatte ihn auch das kein Stück weitergebracht und seit Tagen traten sie nun schon mit ihren Ermittlungen auf der Stelle. Ramirez Estar war in den Weiten des kalten kanadischen Nordens verschwunden, obwohl die CIA interveniert hatte. Der Kanadische Geheimdienst hatte allerdings seine eigene Meinung zu dem Fall und sich deshalb auf stur gestellt. Das war sogar so weit gegangen, dass der britische Botschafter vom kanadischen Premierminister einbestellt worden war, der sich vehement gegen die Ausspioniererei in seinem Land verwahrt hatte.
William Samford seufzte noch einmal innerlich gequält und wünschte sich, Postbote geworden zu sein oder Bäcker oder irgendetwas anderes Harmloses. Der einzige Trost für ihn war, dass nun nicht einmal die CIA wusste, wo der Kerl abgeblieben war und die wussten doch sonst immer alles. Und mit diesem neuen Vorfall in Worthing wuchs ihm das Ganze langsam aber sicher über den Kopf. Alienalarm in Worthing, einem kleinen Ort an der südenglischen Küste. Ein ALIENALARM! Das war das Abenteuerlichste, das er in den letzten Tagen gehört hatte, mit Ausnahme des Gerüchtes, dass Ramirez Estar ebenfalls ein Außerirdischer sein sollte und das weitere Aliens gesichtet worden waren. Das aber hatte ihm die Majorin nur hinter vorgehaltener Hand erzählt.
Die Ereignisse in Worthing, einem kleinen Ort an der englischen Südküste, waren da schon greifbarer. Gestern Nachmittag hatten die Nachbarn einer gewissen Familie Longley die örtliche Polizei angerufen und etwas von außerirdischen Monstern gebrabbelt. Zum Beweis hatten sie ein selbstgedrehtes Video von einem Jungen vorgelegt, der den Mut gehabt hatte sich nach draußen zu wagen und hinter Büschen versteckt seine Minidrohne loszuschicken, um die Aufnahmen zu machen. Der Junge war immer noch völlig geschockt von dem was er gesehen hatte und befand sich jetzt in ärztlicher Behandlung. Leider war das Video schon im Netz bevor das Verteidigungsministerium überhaupt etwas von der Sache mitbekommen hatte, da die Kamera mit dem Onlineaccount des Jungen gekoppelt war und den Stream automatisch abgesetzt hatte. Seine Experten hatten nun alle Hände voll zu tun die Spuren im XNet zu tilgen und Dementis für die aufgeregte Bevölkerung zu formulieren. Von höchster Stelle war der Presse ein Maulkorb verpasst worden, aber das hatte nicht wirklich funktioniert. Die Nachrichtensender stürzten sich auf den Fall wie die Schmeißfliegen auf einen Hundekothaufen. Am liebsten hätte William Samford einfach alle Nachrichtensender lahmlegen lassen, aber so einfach war es leider nicht. Wenn es wahr war, was in Worthing geschehen war, konnte das der Anfang von etwas wirklich Schlimmem sein. Noch war er nicht bereit, es einfach zu glauben.
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