Geschlagene zwei Stunden später waren sie endlich durch die Hauptschleuse hindurch, die in die Tiefen der Oficina Montes Taurus führte. Die Neuankömmlinge befanden sich jetzt in einem großen kahlen Raum, der von den Arbeitern ironisch "Limbus" genannt wurde, nach Dante Alighieris erstem Kreis der Hölle, in dem die sündigen Seelen darauf warteten hinab ins Höllenreich geschleppt zu werden. Die Luft roch chemisch, war aber erstaunlich frisch und sauber. Nachdem sie einen einstündigen Vortrag über sich ergehen hatten lassen, in dem es hauptsächlich um Abfallverwertung und Ressourcennutzung gegangen war, wurden sie eingekleidet und zur Ebene 5 hinuntergebracht, wo die Unterkünfte der Bergarbeiter lagen. Ullisten Getrillum hatte sich eine kleine Einzelkabine genommen, die im Gegensatz zu den größeren nicht viel kostete. Die Kabine entpuppte sich als ein Raum von zehn Quadratmetern, in der ein Bett, ein Stuhl und ein kleines Regal für seine persönlichen Dinge standen. Über dem Bett war eine Lichtanlage für seine tägliche Tageslichtration eingebaut. Der Raum sah im Grunde genommen so aus, wie die Container mit denen die Waren transportiert wurden. Gemeinschaftsduschkabinen und Toilettenanlage befanden sich am Ende des langen Flursegmentes, in dem sein Zimmer lag. In die Wand neben der Eingangstüre war ein Medienbildschirm eingelassen, der auch gleichzeitig der Kommunikation innerhalb der Mine diente. Sein Schichtplan für die kommende Woche war bereits eingeblendet worden. Die Leute hier vergeudeten keine Zeit. Vermutlich war das auch gut so, denn wenn er den Plan der Minenanlage genauer betrachtete, gab es hier nicht viel zu tun, außer zu arbeiten.
Eine Ebene tiefer befand sich ein Gemeinschaftszentrum mit Sportanlage und einer kleinen Bar, in der mit der mineneigenen Chipkarte bezahlt wurde, die sie bei ihrer Einweisungsschulung erhalten hatten und auf die auch ihr Lohn eingetragen wurde. Für die Überweisung auf sein eigenes Bankkonto war er selbst verantwortlich. Das kam Ullisten Getrillum entgegen, war es so doch leichter für ihn sich vor seinen Verfolgern zu verstecken, die sich sicher schon Zugang zu den menschlichen Netzwerken verschafft hatten. Darüber hinaus gab es auf der Ebene 3 eine große Gemeinschaftskantine, in der die Arbeiter am Anfang und Ende einer Schicht essen konnten. Die Rationen mussten einmal pro Monat im Voraus gekauft werden. Die Kosten wurden gleich vom Gehalt einbehalten. Viel Auswahl gab es nicht und es war wohl am besten, wenn er das gleich erledigte.
Nachdem er eine Weile durch sämtliche Nachrichtenkanäle gezappt hatte, die zur Verfügung standen, schaltete er beruhigt wieder aus. Es gab keine Berichte über ihn, dass er noch als Terrorist gesucht wurde. Andere Schlagzeilen beherrschten mittlerweile die Medien. Zeit sich den Rest der Anlage anzusehen. Morgen ging sein Schichtdienst los, da hatte er bestimmt weder Gelegenheit noch Lust sich mit den Freizeitmöglichkeiten zu beschäftigen. Bevor er das Zimmer verließ installierte er noch einen zusätzlichen Filter in der Klimaanlage, der Giftgase und andere gefährliche Stoffe abhalten würde. Der Filter und eine bleistiftähnliche Waffe waren das einzige, was er auf die Mondstation hatte mitbringen können. Viel besaß er ohnehin nicht mehr. Der Aufenthalt in Kanada war ziemlich teuer gewesen und hatte ihn fast sein gesamtes verdientes Gehalt gekostet. Sein Geld aus dem Goldumtausch von London war ebenfalls ziemlich zusammengeschmolzen und seine zwei verbliebenen Goldmünzen hatte er nicht einlösen können, da sie ihn damit unweigerlich aufgespürt hätten. Sie befanden sich immer noch im Innenfach seiner Stiefelsohle. Seine gesamte Kleidung hatte er aus hygienischen Gründen am Haupttor abgeben müssen, auch die Stiefel, was bedeutete, dass er nicht so einfach wieder darankommen würde. Irgendwie hatte er deswegen ein ziemlich mulmiges Gefühl im Bauch, aber er konnte nichts dagegen machen. Privatkleidung war wegen Keimen verboten. Dafür hatte er Arbeitskleidung und Freizeitkleidung von der Firma erhalten. Die Freizeitkleidung bestand aus einer einfachen dunkelblauen Hose und zwei schwarzen Sweatshirts, dazu Unterwäsche und Socken für eine Woche und bequeme Schuhe mit magnetischen Sohlen, wegen der geringen Schwerkraft auf dem Mond. Der Boden war fast überall in der Mine mit einem eisenhaltigen Material beschichtet worden. Ullisten Getrillum betrachtete mit gemischten Gefühlen die Kleidungsstücke. In der Einheitskleidung fühlte er sich, als wäre er in einer geschlossenen Anstalt. Einmal pro Woche gab es einen gewaschenen frischen Satz. Die Minenbetreiber hatten eine Höllenangst davor, dass irgendjemand Keime und Pilze einschleppte. Immer noch roch er nach dem starken Desinfektionsmittel, das aus den Duschen im Limbus geströmt war. Darauf war er nicht noch einmal scharf. Seine Haut brannte von dem Zeug immer noch wie Feuer. Kopfschüttelnd schloss er seine Zimmertür ab und ging hinunter auf Ebene 6, um sich das Unterhaltungszentrum anzusehen.
Die Sportanlage bestand nur aus einem großen Feld, auf dem ein Paar Männer ein Ballspiel spielten. Mehr gab es nicht. Ullisten Getrillum konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Arbeiter, die stundenlang im Dreck gewühlt hatten, nach getaner Arbeit das Bedürfnis hatten sich körperlich auszuleben. Das hier konnte er getrost ignorieren. Dafür gab es gleich neben der Sporthalle ein Kino. Die Filme wechselten wöchentlich. Das war schon eher etwas, das er nutzen würde. Am beliebtesten aber war natürlich die Bar, die sich als eine dunkle Höhle mit abgewetzten Plüschsitzen um zerkratzte Tische herum, einer langen Theke, hinter der der Barkeeper Drinks mixte und ein paar Spieltischen entpuppte. Eine junge, nicht besonders hübsche Frau saß an der Theke und unterhielt sich mit einem Kerl, der sie unablässig mit feuchten Augen anstarrte. Das Auffälligste an ihr war ein ziemlich üppiger Busen, der den Eindruck machte bei jeder Bewegung aus dem engen Shirt herausspringen zu wollen. Die Frau warf Ullisten Getrillum einen kurzen Blick zu und lächelte vielsagend, dann stand sie auf und verließ zusammen mit dem Kerl die Bar.
» Eine Professionelle! «, dachte Ullisten Getrillum, setzte sich auf einen der freien Barhocker und bestellte einen Kaffee, der ungefähr so viel kostete wie ein Heuschreckenburger auf der Erde. Bei den Preisen würde er sich zurückhalten müssen.
»Neu hier? Heute angekommen?«, fragte ihn der Barkeeper in neutralem Tonfall, während er die Gläser aus der Spülmaschine räumte.
Ullisten Getrillum nickte nur, sagte aber nichts dazu. Stattdessen beobachtete er eine Gruppe Männer die gegen Geld ein Kartenspiel spielten. » Diese Raumbars sind im ganzen Universum gleich «, dachte Ullisten Getrillum leicht genervt.
Der Barkeeper war seinem Blick gefolgt und sagte mit einem leicht verächtlichen Unterton in der Stimme, »Glücksspiel. Die Meisten verlieren.«
»Ja, vermutlich. Ich spiele nicht«, Ullisten Getrillum wusste, dass er sich mit dem Mann besser gut stellte und dazu gehörte ein Minimum an Konversation. Möglicherweise bekam er dann auf Dauer günstigere Preise.
»Vernünftig!«, nickte der Barkeeper zustimmend. »Ich bin Johann Sackmüller, aber alle nennen mich einfach nur Jo.«
»Ramirez Estar«, antwortete Ullisten Getrillum und schüttelte die Hand, die ihm der Barkeeper über den Tresen reichte.
Damit war die Unterhaltung auch schon beendet, denn einige Arbeiter und ein dunkelhaariger Kerl, der ihm auf Anhieb unsympathisch war, betraten das Etablissement. Er erkannte zwei von den Arbeitern wieder, denn sie waren heute mit ihm angekommen. Die Gruppe steuerte zielstrebig auf einen der Tische am Rande der Bar zu, während der dunkelhaarige untersetzte Typ mit der ausgeprägten Stirnglatze und dem vorspringenden Kinn an die Theke herantrat und sich einfach neben ihn setzte. Nachdem der Mann einen Drink bestellt hatte, wandte er sich an Ullisten Getrillum. »Ich bin Karl Schumacher. Ich arbeite in der Verwaltung. Schichteinteilung.«
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