Je Tsongkhapa war wie eine Mutter, die ihre Kinder unterrichtet. Eine Mutter bringt ihren Kindern geduldig alles bei, was sie wissen müssen, vom Essen und Gehen bis zum Lesen und Schreiben. Genauso brachte Je Tsongkhapa den Tibetern geduldig alles bei, was sie für ihre spirituelle Entwicklung brauchten, vom anfänglichen Schritt in eine spirituelle Praxis bis zur endgültigen Erlangung der Buddhaschaft. Klar und fehlerlos lehrte er, wie Schritt für Schritt geübt werden sollte - wie man den ersten Schritt macht, um in den Buddhadharma einzutreten, wie man dann in das Mahayana eintritt und wie man schließlich in das Vajrayana eintritt und die volle Erleuchtung erlangt. Er zeigte auch besondere Methoden, um all diese Erfolge schnell zu erlangen. Die unvergleichliche Güte Je Tsongkhapas wurde vom ersten Dalai Lama Je Gendundrub in seinem Gesang des östlichen Schneebergs gepriesen, in dem er schreibt:
Für die glücklichen Menschen in Tibet, dem Lande des Schnees, ist Deine Güte, o Beschützer, unvorstellbar.
Besonders für mich, Gendundrub,
Ist die Tatsache, dass mein Geist auf Dharma gerichtet ist,
Allein Eurer Güte zu verdanken, o Ehrwürdige, Vater und Söhne.
Von jetzt an bis ich Erleuchtung erlange,
Werde ich keine andere Zuflucht als Euch suchen.
O Ehrwürdige, Vater und Söhne,
Bitte sorgt für mich mit Eurem Mitgefühl.
Obwohl ich Deine Güte nicht erwidern kann, o Beschützer,
Bete ich, dass ich mit einem Geist frei von Anhaftung und Hass
Danach streben möge, Deine Lehre zu bewahren und zum Erblühen zu bringen,
Ohne jemals dieses Bemühen aufzugeben.
Bevor Je Tsongkhapa in Tibet erschien, gab es viele andere hohe Wesen, die Dharma praktizierten, doch die meisten offenbarten ihre spirituellen Erlangungen, indem sie Hellsicht, Wunderkräfte und so weiter zur Schau stellten. Je Tsongkhapa betrachtete solche Zurschaustellungen als wenig hilfreich, da sie den Lebewesen nicht helfen, ihre Unwissenheit, die Hauptursache ihrer Leiden, zu überwinden. Wie kann es Schülern helfen, wenn ein Lehrer ihnen Hellsicht oder Wunderkräfte offenbart, indem er oder sie zum Beispiel vor ihnen im Raum schwebt? Anstatt zu helfen, kann das sogar Hindernisse hervorrufen. Die Schüler können misstrauisch werden oder anfangen zu zweifeln und einigen mag es sogar unangenehm sein zu wissen, dass ihr Lehrer ihre Gedanken lesen und ihre innersten Geheimnisse entdecken kann. Solche Bedenken führen sowohl für die Schüler als auch für den Lehrer nur zu Hindernissen. In der Vergangenheit wurden Praktizierende beschuldigt schwarze Magie auszuüben, wenn sie ihre Wunderkräfte anderen offenbarten, und einige gerieten sogar in Lebensgefahr. Deshalb stellten die Kadampa Geshes und Je Tsongkhapa eine Regel auf, die es ihren Anhängern untersagte ihre Wunderkräfte zur Schau zu stellen. In den Klöstern der Tradition Je Tsongkhapas wurde jeder Mönch, der seine Wunderkräfte öffentlich zur Schau stellte, gebeten das Kloster zu verlassen.
Andere Traditionen sehen in der Zurschaustellung von Wunderkräften ein Zeichen großer Erlangung, doch Je Tsongkhapas Tradition zufolge haben solche Darstellungen wenig Sinn. Schließlich können Vögel durch die Luft fliegen und Mäuse können sich unter der Erde bewegen, doch sie bleiben genauso verblendet wie eh und je und kommen dadurch der Befreiung oder Erleuchtung nicht näher. Außerdem besaß jeder von uns in seinen unzähligen früheren Leben oftmals Wunderkräfte, doch unser Geist ist noch immer in Unwissenheit gehüllt und wir werden fortwährend unkontrolliert in leidvollen Zuständen wiedergeboren.
Als eine Manifestation des Weisheitsbuddha Manjushri erkannte Je Tsongkhapa, dass man Lebewesen am besten helfen kann ihre Unwissenheit zu überwinden, wenn man ihnen ein gutes Beispiel zeigt und klare und tiefgründige Unterweisungen gibt. Wie eine Mutter, die für ihre Kinder sorgt, so widmete Je Tsongkhapa sein ganzes Leben dem Ziel, durch seine klaren und tiefgründigen Unterweisungen anderen zu helfen ihre Unwissenheit zu überwinden.
Je Tsongkhapas Lehren sind wie Schlüssel, die uns die Bedeutung von Buddhas Sutras und Tantras erschließen. Ohne Je Tsongkhapas Werke, allein durch das Lesen der Schriften, wäre es uns nicht möglich, Buddhas Absicht zu erkennen. Heutzutage sind wir nur durch die Güte Je Tsongkhapas in der Lage, die Stufen des Pfades zur Erleuchtung, Lamrim, zu üben. Die Lamrim Lehren gehen auf Buddha selbst zurück. Ihre systematische Darstellung allerdings stammt von Atisha, dem großen buddhistischen Meister aus Indien, der von König Jangchub Ö nach Tibet eingeladen wurde. Jedermann betrachtet Atisha als sehr gütig, da er die reine Tradition gründete, die als Kadampa Tradition bekannt ist, und den ursprünglichen Lamrim Text Lampe für den Pfad verfasste. Schauen wir uns diesen Text jedoch an, dann sehen wir, dass er nur wenige Seiten umfasst und die komplexe Bedeutung aller Stufen des Pfades zur Erleuchtung in sehr wenigen Worten zusammenfasst. Ohne Erklärung und Kommentar können wir diese Unterweisungen unmöglich verstehen und umsetzen. Es war Je Tsongkhapa, der die essenziellen Erklärungen dazu gab, die es uns ermöglichen, Atishas kostbare Lehren umzusetzen. In seinen Schriften Große, Mittlere und Zusammengefasste Darlegung der Stufen des Pfades stellt Je Tsongkhapa einen vollkommen klaren und fehlerlosen Leitfaden für jede der essenziellen Übungen des Pfades zur Erleuchtung zur Verfügung.
Je Tsongkhapa gab eine besonders klare und fehlerlose Erläuterung der tiefgründigen Leerheit, die mit der Sicht des Beschützers Nagarjuna übereinstimmt. Bevor Je Tsongkhapa in Tibet erschien, entwickelten viele Praktizierende Missverständnisse hinsichtlich Buddhas Lehren über Leerheit. Unfähig das genaue Objekt der Verneinung klar zu erkennen, fielen sie in die Extreme der Beständigkeit und des Nichts. Viele Tibeter glaubten, dass es unmöglich sei, die Unfehlbarkeit von Ursache und Wirkung zu begründen, wenn Phänomene vollkommen leer von inhärenter Existenz sind, und dass es infolgedessen keine Grundlage für die Praxis moralischer Disziplin oder anderer Methodenübungen wie Mitgefühl oder Bodhichitta gebe. Andererseits glaubten sie, dass für den Fall, dass es eine Grundlage für die Methodenübungen gibt, Phänomene von ihrer eigenen Seite existieren würden und infolgedessen Leerheit unmöglich wäre. Je Tsongkhapa zeigte die Fehler dieser Denkweise und begründete klar, dass es keinen Widerspruch zwischen Leerheit, dem Fehlen der inhärenten Existenz aller Phänomene, und nichttäuschender Ursache und Wirkung gibt. So konnte er in Übereinstimmung mit der Absicht Nagarjunas die richtige Sicht des mittleren Weges begründen und dadurch seine Anhänger davor schützen, in eines der beiden Extreme zu fallen.
Neben Lamrim können Dharma Praktizierende heutzutage auch die besonderen Methoden der Geistesschulung, oder Lojong, praktizieren. Diese Übungen, die dem Lamrim entnommen sind und besonders betont werden, sind kraftvolle Methoden, um durch die Praxis des Gleichstellens und Austauschens vom Selbst mit anderen, verbunden mit der Praxis des Nehmens und Gebens, einen besonderen Bodhichitta zu erzeugen. Wie im Lamrim sind auch die ursprünglichen Anleitungen des Lojong sehr kurz und für uns schwierig zu verstehen. So umfasst zum Beispiel Geshe Chekhawas Urtext Sieben Punkte der Geistesschulung nur zwei Seiten. Würden wir versuchen Lojong zu praktizieren, indem wir uns allein auf diesen Text verlassen, so würden wir nur schwerlich Fortschritte machen. Je Tsongkhapas Kommentare entschlüsseln die verborgene Bedeutung der Texte der Geistesschulung und ermöglichen uns, sie in die Praxis umzusetzen. Nur dank der Güte Je Tsongkhapas sind wir heute in der Lage, die Anleitungen der Geistesschulung zu praktizieren.
Je Tsongkhapas Werke sind auch für die Übung des Geheimen Mantra unentbehrlich. Würden wir versuchen Geheimes Mantra zu praktizieren, indem wir uns allein auf die Tantras verlassen, so würden wir feststellen, dass die Schriften nicht entzifferbar sind. Ohne Je Tsongkhapas Kommentare, die ihre Bedeutung entschlüsseln, wären Schriften wie Vajradharas Guhyasamaja Wurzeltantra oder das Heruka Wurzeltantra, das auch die Anleitungen zum Vajrayogini Tantra enthält, wie versiegelte Schatztruhen, zu denen wir keinen Zugang finden. In seinen tantrischen Lehren erläutert Je Tsongkhapa die essenziellen Übungen aller tantrischen Gottheiten. Heutzutage können zum Beispiel viele Menschen nur dank der Güte Je Tsongkhapas die besonderen Yogas von Heruka und Vajrayogini praktizieren. Indem sie Je Tsongkhapas Erklärungen folgten, verfassten spätere Lehrer die außergewöhnlichen Sadhanas und Kommentare zu Heruka und Vajrayogini, die heute praktiziert werden.
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