Der König versuchte nun mit allen Mitteln zu verhindern, dass sein Sohn den Palast verließ. In der Hoffnung, dass der Prinz seine Absicht ändern würde, umgab er ihn mit einem Gefolge von schönen Frauen, Tänzern, Sängern und Musikern, die Tag und Nacht ihre Kunst darboten, um ihm Freude zu bereiten. Für den Fall, dass der Prinz eine heimliche Flucht versuchen würde, umstellte der König die Palastmauern mit Wächtern. Doch die Entschlossenheit des Prinzen, den Palast zu verlassen und ein Leben der Meditation zu beginnen, konnte nicht erschüttert werden. Eines Nachts nutzte er seine Wunderkräfte, versetzte die Wächter und Höflinge in einen tiefen Schlaf und floh mit der Unterstützung eines vertrauten Dieners. Nach einem Ritt von ungefähr zehn Kilometern stieg der Prinz vom Pferd und nahm Abschied von seinem Helfer. Er schnitt seine Haare ab und warf sie zum Himmel empor, wo sie von den Göttern des Landes der dreiunddreißig Himmel aufgefangen wurden. Einer der Götter bot ihm die Safranroben eines religiösen Bettelmönches an. Der Prinz nahm sie an und tauschte sie gegen seine königlichen Gewänder. Auf diese Weise ordinierte er sich selbst als Mönch.
Siddhartha machte sich dann auf den Weg an einen Ort in der Nähe von Bodhgaya in Indien, wo er einen geeigneten Platz zum Meditieren fand. Dort blieb er und übte eine Meditation, die «raumähnliche Konzentration über den Dharmakaya» genannt wird, in der er sich einsgerichtet auf die endgültige Natur aller Phänomene konzentrierte. Nachdem er sich sechs Jahre lang in dieser Meditation geschult hatte, erkannte er, dass er der Erleuchtung sehr nahe war und begab sich nach Bodhgaya. Dort setzte er sich am fünfzehnten Tag des vierten Monats des Mondkalenders unter einen Bodhibaum und gelobte, bis zur vollständigen Erleuchtung in der Meditation zu verweilen. Mit diesem Entschluss trat er in die raumähnliche Konzentration über den Dharmakaya ein.
In der Abenddämmerung versuchte Devaputra Mara, das Oberhaupt aller Dämonen oder Maras dieser Welt, Siddharthas Konzentration zu erschüttern, indem er viele beängstigende Erscheinungen heraufbeschwor. Er erzeugte Scharen von furchterregenden Dämonen, von denen einige Speere warfen, andere Pfeile abschossen, ihn mit Feuer bedrohten und Felsbrocken oder sogar Berge nach ihm schleuderten. Siddhartha ließ sich jedoch in keiner Weise stören. Durch die Kraft seiner Konzentration erschienen ihm die Waffen, Felsblöcke und Berge als duftender Blumenregen und die tobenden Feuer als Darbringungen von Regenbogenlicht.
Als Devaputra Mara sah, dass Siddhartha nicht erschreckt werden konnte und seine Meditation nicht abbrach, ließ er zahllose wunderschöne Frauen erscheinen, um ihn abzulenken. Siddhartha entwickelte daraufhin eine noch tiefere Konzentration. Auf diese Weise siegte er über alle Dämonen dieser Welt. Deshalb wurde er später der «Eroberer Buddha» genannt.
Siddhartha setzte seine Meditation fort und erreichte im Morgengrauen die «vajragleiche Konzentration». Durch diese Konzentration, die der letzte Geisteszustand eines begrenzten Wesens ist, befreite er seinen Geist von dem letzten Schleier der Unwissenheit und wurde im nächsten Moment ein Buddha, ein voll erleuchtetes Wesen.
Es gibt nichts, das Buddha nicht weiß. Da er aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht ist und alle Behinderungen aus seinem Geist entfernt hat, erkennt er alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige gleichzeitig und unmittelbar. Außerdem besitzt Buddha großes Mitgefühl, das vollständig unvoreingenommen ist und alle Lebewesen ohne Unterschied umfasst. Er hilft allen Lebewesen ohne Ausnahme, indem er im ganzen Universum verschiedene Formen ausstrahlt und ihrem Geist seine Segnungen gewährt. Alle Wesen, die Buddhas Segnungen erhalten, sogar die winzigsten Tiere, entwickeln von Zeit zu Zeit friedvolle und tugendhafte Geisteszustände. Schließlich werden alle die Gelegenheit haben, den Weg zur Befreiung und Erleuchtung zu gehen, denn sie werden eine Ausstrahlung Buddhas in Gestalt eines spirituellen Meisters treffen. Der große indische Gelehrte Nagarjuna sagt, dass es kein einziges Wesen gibt, das noch keine Hilfe von Buddha erhalten hat.
Neunundvierzig Tage nachdem Buddha Erleuchtung erlangt hatte, baten ihn die Götter Brahma und Indra zu lehren. Sie sprachen:
O Buddha, Schatz des Mitgefühls,
Lebewesen sind wie Blinde in ständiger Gefahr, in die niederen Bereiche zu fallen.
Außer dir gibt es keinen Beschützer in dieser Welt.
Deshalb flehen wir dich an, bitte erhebe dich aus dem meditativen Gleichgewicht und drehe das Rad des Dharmas.
Auf diese Bitte hin erhob sich Buddha aus seiner Meditation und lehrte das erste Rad des Dharmas. Diese Lehren, zu denen das Sutra der Vier Edlen Wahrheiten und andere Unterweisungen gehören, bilden die Hauptquelle des Hinayana oder Kleinen Fahrzeuges des Buddhismus. Später lehrte Buddha das zweite und dritte Rad des Dharmas. Hierzu zählen die Sutras der Vollkommenheit der Weisheit und das Sutra der Unterscheidung der Absicht. Diese Lehren sind der Ursprung des Mahayana oder Großen Fahrzeuges des Buddhismus. In den Hinayana Unterweisungen erklärt Buddha, wie wir die Befreiung von Leiden für uns allein erreichen können. In den Mahayana Unterweisungen erläutert er, wie volle Erleuchtung oder Buddhaschaft zum Wohle aller erlangt werden kann. Beide Traditionen blühten in Asien: zuerst in Indien und dann nach und nach in den angrenzenden Ländern, so auch in Tibet. Jetzt beginnen sie in Ländern der ganzen Welt zu erblühen.
Der Grund, weshalb die Lehre Buddhas das «Rad des Dharmas» genannt wird, ist folgender: Es heißt, dass es in früheren Zeiten große Könige gab, die «Chakravatin Könige», die die ganze Welt beherrschten. Diese Könige verfügten über viele außergewöhnliche Reichtümer. Darunter war ein kostbares Rad, in dem sie um die ganze Welt reisen konnten. Wohin sich das kostbare Rad auch wandte, dort herrschte der König. Buddhas Lehren werden als ein solches kostbares Rad betrachtet. Dort, wo sie Verbreitung finden, haben Menschen die Gelegenheit, ihre Verblendungen zu kontrollieren, indem sie die Unterweisungen in die Praxis umsetzen.
«Dharma» bedeutet Schutz. Indem wir Buddhas Lehren anwenden, schützen wir uns vor Leiden und Schwierigkeiten. Alle Schwierigkeiten, denen wir im täglichen Leben begegnen, entspringen der Unwissenheit; und Dharma Praxis ist die Methode, diese Unwissenheit zu beseitigen.
Dharma zu praktizieren ist die beste Methode, die Qualität unseres menschlichen Lebens zu verbessern. Die Lebensqualität hängt nicht von äußeren Entwicklungen oder materiellem Fortschritt ab. Sie ist abhängig von der inneren Entwicklung, die zu Frieden und Glück führt. In der Vergangenheit lebten viele Buddhisten in armen und unterentwickelten Ländern. Doch sie fanden reines und anhaltendes Glück, indem sie das, was Buddha lehrte, umsetzten.
Integrieren wir Buddhas Lehren in unser tägliches Leben, so können wir alle unsere inneren Probleme lösen und einen wirklich friedvollen Geist entwickeln. Ohne inneren Frieden ist äußerer Friede unmöglich. Erlangen wir durch die Schulung in den spirituellen Pfaden zuerst Frieden in unserem Geist, dann entsteht äußerer Friede von ganz allein. Tun wir dies jedoch nicht, wird sich der Weltfrieden niemals einstellen, ganz gleich wie viele Menschen dafür kämpfen.
DER ZEITPUNKT, ZU DEM DAS SUTRA VERKÜNDET WURDE
«Einst» bezieht sich auf die Zeit nach der Reise Buddhas von Vaishali, wo er seine umfassenden Wunderkräfte unter Beweis gestellt hatte, nach Rajagriha. Buddha war etwa 57 Jahre alt, als er dieses Sutra verkündete.
DER ORT, WO DAS SUTRA VERKÜNDET WURDE
«Weilte der Gesegnete in Rajagriha auf dem Berg der versammelten Geier»: Dieses Sutra wie auch die längeren Sutras der Vollkommenheit der Weisheit wurden verkündet, während Buddha Shakyamuni in der Nähe von Rajagriha weilte, das in der heutigen Provinz Bihar in Indien nahe bei Bodhgaya liegt. Der genaue Ort des Vortrags war ein Hügel, «Berg der versammelten Geier» (Skrt. Gridhrakutaparvata) genannt.
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