Avalokiteshvara
Die Hintergründe und Shariputras Frage
DIE ERKLÄRUNG ZUM HAUPTTEIL DES SUTRAS
Die Erklärung hat drei hauptsächliche Überschriften:
1. Die allgemeine Erklärung der Hintergründe des Sutras
2. Die außergewöhnliche Erklärung der Hintergründe des Sutras
3. Die Erklärung des eigentlichen Sutras
DIE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER HINTERGRÜNDE DES SUTRAS
So habe ich gehört. Einst weilte der Gesegnete zusammen mit einer großen Versammlung von Mönchen und Nonnen und einer großen Versammlung von Bodhisattvas in Rajagriha auf dem Berg der versammelten Geier.
Dieser Teil der Erklärung der Hintergründe des Sutras wird die «allgemeine Erklärung» genannt, weil es sich um Aspekte der Umstände handelt, die einfach zu verstehen sind und den Anwesenden allgemein bekannt waren.
«So habe ich gehört» weist darauf hin, dass dieser Teil des Textes explizit von Ananda, einem engen Schüler Buddhas, gesprochen wurde. Nach dem Ableben Buddhas war es im Wesentlichen Ananda, der Buddhas Worte sammelte und dessen Lehre an andere weitergab. Die Erklärung der Hintergründe wurde nicht von Buddha selbst gesprochen. Dennoch werden diese Worte als Buddhas Worte angesehen, weil Buddha Anandas Geisteskontinuum segnete und ihm die Erlaubnis gab so zu sprechen.
Es ist allgemeiner Brauch, zu Beginn der umfassenderen Sutras eine ausführliche Erklärung der Hintergründe des Sutras zu geben. Im vorliegenden Fall ist diese sehr kurz, beinhaltet aber dennoch die folgenden vier Punkte:
1. Der Sprecher des Sutras
2. Der Zeitpunkt, zu dem das Sutra verkündet wurde
3. Der Ort, wo das Sutra verkündet wurde
4. An wen das Sutra gerichtet wurde
DER SPRECHER DES SUTRAS
«Der Gesegnete» bezieht sich hier auf Buddha Shakyamuni. Er war es, der dieses Sutra tatsächlich verkündete. Dies wird später erklärt.
Es ist sehr inspirierend, über die Lebensgeschichte Buddhas und seine ausgezeichneten Taten nachzudenken. Im Allgemeinen bedeutet «Buddha» «der Erwachte». Er ist aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht und sieht die Dinge so, wie sie wirklich sind. Ein Buddha ist jemand, der von allen Fehlern und geistigen Behinderungen völlig befreit ist. Es gibt viele Menschen, die in der Vergangenheit Buddhas geworden sind, und in Zukunft werden alle Lebewesen Buddhas werden.
Der Buddha, der die buddhistische Religion gegründet hat, ist Buddha Shakyamuni. «Shakya» ist der Name der königlichen Familie, in die er geboren wurde; «muni» bedeutet «der Fähige». Buddha Shakyamuni wurde als königlicher Prinz 624 v. Chr. in Lumbini geboren, einem Ort, der ursprünglich im Norden Indiens lag, heute aber zu Nepal gehört. Der Name seiner Mutter war Königin Mayadevi und der seines Vaters König Shuddhodana.
Eines Nachts träumte Königin Mayadevi, dass ein weißer Elefant vom Himmel herabstieg und in ihren Schoß eintrat. Der weiße Elefant, der in ihren Schoß eingetreten war, war ein Zeichen dafür, dass sie in eben dieser Nacht ein Kind empfangen hatte, das ein reines und mächtiges Wesen war. Dass der Elefant vom Himmel herabgestiegen war, bedeutete dass das Kind vom Tushita Himmel kam, dem Reinen Land Buddha Maitreyas. Als die Königin später das Kind gebar, empfand sie keine Schmerzen, sondern erlebte stattdessen eine besondere, reine Vision. Während sie aufrecht stand und mit der rechten Hand den Ast eines Baumes hielt, nahmen die Götter Brahma und Indra das Kind ohne Schmerzen aus ihrer Seite. Anschließend ehrten sie es mit rituellen Waschungen.
Als der König das Kind sah, glaubte er, alle seine Wünsche seien in Erfüllung gegangen. Er nannte den jungen Prinzen «Siddhartha». Dann lud er einen brahmanischen Seher ein, der Vorhersagen über die Zukunft des Prinzen machen sollte. Mit seiner Hellsicht untersuchte der Seher das Kind und sagte zum König: «Es gibt Zeichen, dass der Knabe entweder ein Chakravatin König, ein Herrscher über die gesamte Welt oder ein voll erleuchteter Buddha wird. Da jedoch die Zeit der Chakravatin Könige vorüber ist, wird er sicherlich ein Buddha werden und sein wohltuender Einfluss wird die tausend Millionen Welten durchdringen wie die Strahlen der Sonne.»
Als der junge Prinz heranwuchs meisterte er mühelos, ohne dass man es ihm beibringen musste, alle traditionellen Künste und Wissenschaften. Er beherrschte vierundsechzig Sprachen und das jeweils dazu gehörige Alphabet. Auch in Mathematik war er sehr gewandt. Einmal teilte er seinem Vater mit, er könne alle Atome der Welt innerhalb eines Atemzuges zählen. Obwohl er nicht lernen musste, tat er es seinem Vater zuliebe und um anderen von Nutzen zu sein. Dem Wunsch seines Vaters folgend, besuchte er eine Schule, widmete sich dem Studium verschiedener akademischer Fächer und erlangte Gewandtheit in den Kampfkünsten und dem Bogenschießen. Der Prinz äußerte bei jeder sich bietenden Gelegenheit spirituelle Gedanken und ermutigte andere, spirituelle Pfade einzuschlagen. Als er einmal an einem Wettkampf der Bogenschützen teilnahm, rief er aus: «Mit dem Bogen der meditativen Konzentration werde ich den Pfeil der Weisheit abschießen und den Tiger der Unwissenheit in den Lebewesen töten.» Daraufhin ließ er den Pfeil losschnellen, der geradewegs fünf eiserne Tiger und sieben Bäume durchbohrte, ehe er in der Erde verschwand! Tausende von Menschen entwickelten aufgrund solcher Demonstrationen Vertrauen in den Prinzen.
Gelegentlich begab sich Prinz Siddhartha in die Hauptstadt des Königreiches seines Vaters, um zu sehen, wie die Menschen lebten. Während dieser Besuche begegnete er vielen Alten und Kranken und einmal sah er eine Leiche. Diese Begegnungen hinterließen einen tiefen Eindruck in seinem Geist und führten ihn zu der Einsicht, dass alle Lebewesen, ohne Ausnahme, die Leiden von Geburt, Altern, Krankheit und Tod erdulden müssen. Weil er die Gesetze der Reinkarnation verstand, erkannte er auch, dass sie diese Leiden nicht nur einmal, sondern immer wieder, Leben für Leben, endlos erfahren müssen. Er sah, dass alle Lebewesen in diesem schrecklichen Kreislauf des Leidens gefangen sind, empfand tiefes Mitgefühl und entwickelte den aufrichtigen Wunsch, sie alle von ihrem Leiden zu befreien. Er erkannte, dass nur ein voll erleuchteter Buddha die Weisheit und die Kraft hat, allen Lebewesen zu helfen. So entschloss er sich, den Palast zu verlassen und sich in die Einsamkeit des Waldes zurückzuziehen, um dort bis zur Erlangung der Erleuchtung in tiefer Meditation zu verweilen.
Als die Bewohner des Königreiches Shakya merkten, dass der Prinz den Palast verlassen wollte, baten sie den König, eine Hochzeit für ihn zu arrangieren. Sie hofften, dadurch den Prinzen von seinem Entschluss abzubringen. Der König war einverstanden und hatte bald eine passende Braut gefunden. Sie hieß Yasodhara und stammte aus einer angesehenen Shakya Familie. Prinz Siddhartha hatte jedoch keine Anhaftung an weltliche Vergnügen, weil er sah, dass Objekte der Anhaftung wie giftige Blumen sind. Anfänglich sehr anziehend, verursachen sie mit der Zeit großes Leid. Sein Entschluss, den Palast zu verlassen und Erleuchtung zu erlangen, blieb unverändert stark. Um aber die Wünsche seines Vaters zu erfüllen und dem Volk von Shakya zeitweilig von Nutzen zu sein, willigte er in die Hochzeit mit Yasodhara ein. Er blieb zwar als königlicher Prinz im Palast, widmete aber dennoch seine ganze Zeit und Energie dem Volk von Shakya, um ihm auf jede erdenkliche Weise zu dienen.
Als er neunundzwanzig Jahre alt war, hatte der Prinz eine Vision. Ihm erschienen alle Buddhas der zehn Richtungen und sprachen im Chor: «Du hast dich einstmals entschlossen, ein Eroberer Buddha zu werden, damit du allen Lebewesen, die im Kreislauf des Leidens gefangen sind, helfen kannst. Jetzt ist für dich die Zeit gekommen, dies zu vollenden.» Der Prinz ging sofort zu seinen Eltern und teilte ihnen seine Absicht mit: «Ich möchte mich an einen friedlichen Ort im Wald zurückziehen. Dort will ich in tiefer Meditation verweilen und rasch volle Erleuchtung erlangen. Wenn ich Erleuchtung erlangt habe, kann ich die Güte aller Lebewesen und besonders die große Güte, die ihr mir erwiesen habt, vergelten. Ich bitte euch deshalb um Erlaubnis, den Palast zu verlassen.» Als seine Eltern dies hörten, waren sie entsetzt und der König weigerte sich, seine Erlaubnis zu geben. Prinz Siddhartha sprach zu seinem Vater: «Vater, wenn du mir dauerhafte Freiheit von den Leiden der Geburt, der Krankheit, des Alterns und des Todes geben kannst, dann werde ich den Palast nicht verlassen. Wenn du das aber nicht kannst, dann muss ich fortgehen und meinem menschlichen Leben wirkliche Bedeutung geben.»
Читать дальше