Die Unzufriedenheit meines Bruders konnte ich ganz und gar nicht teilen. Schriftliche Aufzeichnungen zogen mich stets in ihren Bann, vielleicht deswegen, weil es nur so wenige davon gab. Und während Rob stapelweise Schriften heranschleppte und sie deutlich behutsamer in meiner Nähe deponierte, blätterte ich ehrfürchtig durch die ersten Seiten. Die Lichtverhältnisse erwiesen sich jedoch als gänzlich ungeeignet um irgendetwas entziffern zu können, also verzog ich mich mit meinem Schatz nach draußen.
Nun war es an mir, enttäuscht zu sein. Hunderte Seiten fleckiger, vergilbter und zum Teil vergammelter Schriften, geschrieben in einer Sprache, die ich nicht verstand. Faszinierend allein die Handschrift, mit vielen schwungvollen Bögen, die, auch wenn eindeutig erkennbar zuweilen hastig geschrieben, nie ihre kontinuierlich klare Gestalt verlor. Mit der gebotenen Vorsicht, das angegriffene Material nicht noch weiter zu ruinieren, schlug ich Seite um Seite um, in der Hoffnung irgendwann auf Textzeilen zu stoßen, die ich zu entziffern in der Lage war. Doch dieser Wunsch erfüllte sich zunächst nicht.
„Noch irgendwas anderes?“ fragte ich Rob, der begonnen hatte, sämtliche Funde vor die Höhle zu tragen und zu Haufen aufzuschichten.
Er schüttelte den Kopf.
„Bis jetzt nicht. Weißt du, was ich glaube? Das ganze Zeug ist in der Endphase des Großen Krieges von Stoney Creek aus hierher geschafft worden, um es vor der Vernichtung durch die Opreju zu bewahren.“
Sofort misstraute ich dieser Theorie.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, wer nimmt sich die Zeit, irgendwelche Aufzeichnungen hier einzumauern, wenn der Feind vor der eigenen Haustür steht.“
„Nun, dass es sich hier offenbar um wichtige Dokumente handelt, dürfte außer Frage stehen, oder denkst du, der arme Kerl da drin hat sich für nichts ermorden lassen?“
„Du willst sagen, er ist getötet worden?“
„Davon gehe ich aus. Wer lässt sich schon bei lebendigem Leib einmauern? Wer immer er war, er musste sterben, damit dieses Versteck geheim bleiben konnte.“
Ich nickte nachdenklich. „Klingt plausibel. Das bedeutet aber auch, dass es noch jemand gegeben hat, der um diesen Ort wusste.“
„Natürlich“, führte Rob mein Gedankenspiel fort. „Derjenige, der die Mauer hochgezogen hat. Der Mörder.“
Wesentlich respektvoller wandte ich mich einem der Stapel zu, die Rob aufgeschichtet hatte. Wenn seine Annahme stimmte und der Tote in der Höhle tatsächlich wegen jener Dokumente das Leben verloren hatte, mussten sie bedeutend sein – oder waren es wenigstens einmal gewesen.
„Bis jetzt werde ich nicht schlau aus dem ganzen. Alles geschrieben in fremdartiger Sprache.“ Wahllos griff ich nach einem großformatigen ledernen Umschlag, der sich in noch schlechterem Zustand befand als der erste. Der Inhalt bestand aus allerlei schwer lädiertem Kartenmaterial, welches vor Ewigkeiten mit Wasser in Berührung gekommen sein musste.
„Sieht aus wie eine Sammlung von Landkarten“, murmelte ich und gab es Rob weiter, der sich mehr für Pläne und dergleichen interessierte.
„Das sind detaillierte Karten von Aotearoa“, rief er fasziniert aus. „Vater besitzt eine kleine Sammlung alter Landkarten von Gondwanaland. Diese hier sind ähnlich, nur in größerem Maßstab. Und detaillierter. Sieh mal, sogar welche von der Bay of Islands. Apago, Wentland, Ewas, Radan, ich erkenne sie genau wieder. Nur stehen hier völlig andere Bezeichnungen neben den Inseln. Radan heißt hier – ich kann es kaum entziffern – ‚Eyllo-essudi’ oder so ähnlich. Die Namen für jede Insel beginnen mit ‚Eyllo’…“
Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu, hatte ich mich doch bereits anderen Aufzeichnungen zugewandt, begierig, endlich welche zu finden, die ich auch lesen konnte. Es sollte einige Zeit dauern, bis ich auf etwas stieß, was in verständlicher Sprache geschrieben war, doch ich wurde schließlich fündig. Es handelte sich um eine kleinformatige, vom Zahn der Zeit angenagte Sammlung loser Blätter, beschrieben mit verblasster, grünlich-grauer Tinte. Zwei Umschlagseiten aus altem zerbröckelndem Leder umgaben mehr oder weniger schützend den zerfallenden Inhalt von schmutzig-gelbem, pergamentartigem Papier. „Na also!“ rief ich erleichtert. „Sieh mal, endlich Aufzeichnungen in unserer Sprache. Sieht aus wie ein Tagebuch.“
Was ich in den Händen hielt, sollte das Bild von der Welt, in der wir lebten seit wir denken konnten, für immer verändern.
Gondwana war jahrhundertelang eine friedliche Welt gewesen. Neben den Menschen existierten auf meinem Heimatplaneten nur zwei weitere, höher entwickelte Lebensformen. Eine davon waren die Uhleb, humanoide Kreaturen von kleinem Wuchs und ebensolchen Bedürfnissen. Das Volk der Uhleb besiedelte einst weite Teile Gondwanalands. Wann und warum es sich teilte, und welcher Teil das angestammte Gebiet (das die Menschen schlicht „Uhleb“ nannten) verließ, um neue Siedlungen im Norden zu gründen, liegt im Dunkeln. Fest steht unwiderlegbar, wo sie sich erfolgreich niederließen: Anfangs in den fruchtbaren Gebieten zwischen den Hügeln von Ithra und dem Fluss Sokwa. Später siedelten sie auch westlich davon und erreichten die südlichen Ausläufer des Zentralmassivs, einer Klimagrenze, die den flächenmäßig um ein Vielfaches kleineren und kühleren Nordostzipfel des Kontinents vom heißen, trockenen Süden trennt. Abschließend stießen sie in den regenreichen und für ihren Geschmack eigentlich unwirtlichen Norden des Kontinents vor, nach Aotearoa.
Immerhin die Triebfeder hinter dieser letzten Völkerbewegung ist bekannt. Freiwillig traten die Uhleb nicht in Konkurrenz zu den Menschen, die Aotearoa als ihr eigen betrachteten.
Den tiefen Süden des Kontinents, von Fennosarmatia bis hinunter in das Eisgebirge, konnten weder Mensch noch Uhleb jemals meistern. Er blieb sich selbst und natürlich den Opreju überlassen. Die Landmasse im Westen, den Menschen ein Begriff unter dem Namen Kenorland, blieb durch eine natürliche Barriere versperrt, einem gewaltigen Gebirgszug, welcher den Kontinent Gondwanaland von Nord nach Süd durchzieht und in zwei ungleich große Teile aufspaltet. Die ersten Menschen, die sich daran machten ihn zu überwinden, scheiterten an seiner schieren Größe. Nur wenigen abenteuerlustigen Seefahrern war es gelungen, das sagenhafte Land jenseits des Barrieregebirges auf dem Seeweg über die unberechenbare Tethys zu erreichen. Nur eine Handvoll kehrte zurück, um davon berichten zu können. Sie sprachen unabhängig voneinander von undendlichen Weiten, üppig und fruchtbar an ihren Rändern, aber karg und versteppt im Inneren. Ihre zweifelhaften Berichte von Fabelwesen, die dort angeblich vorkamen, stießen auf berechtigtes Unverständnis. Niemand konnte sich mit schuppigen Panzern versehene Sechsbeiner von den vielfachen Ausmaßen einer Kuh, ausgestattet mit langen, peitschenförmigen Schwänzen, auch nur im Entferntesten vorstellen. Ebenso fragwürdig blieben die Darstellungen immens hoher Baumriesen, die in den Himmel reichten, soweit man sehen konnte und angeblich über Stämme verfügten, die eine Kette aus fünfzig Männern nicht umfassen könnte. Der namenlose Westen Gondwanalands schien über eine Flora und Fauna zu verfügen, die sich gänzlich von der im Osten unterschied. Nur wenige glaubten diesen Berichten. Vielleicht hätten sich die Menschen irgendwann ernsthaft aufgemacht, dieses Wunderland auf der anderen Seite des Barrieregebirges zu erkunden, wäre ihnen der katastrophale Krieg gegen die Opreju nicht dazwischengekommen. Danach stand den wenigen Überlebenden nicht mehr der Sinn nach Entdeckungen.
Den Opreju als Gegner gegenüberzustehen, der dritten höher entwickelten Lebensform Gondwanalands, brachte die Menschen an den Rand der Vernichtung. Wie war es dazu gekommen? Eine gute Frage. Letztlich gibt es keine gesicherten Belege, weshalb die beiden so unterschiedlichen Völker in Konflikt gerieten.
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