„Das Segel ist in schlechterem Zustand als ich annahm“, erzählte mein Bruder. Seine Stimme klang aber zuversichtlich. „Wir haben zwar nichts hier, um es zu flicken, aber ich denke, es wird auch so gehen. Wir müssen uns eben mit stark verminderter Segelfläche auf den Weg machen.“
Ich konnte es nicht länger zurückhalten.
„Ich hatte Gelegenheit, die Höhle genauer zu untersuchen, Rob.“
Der kaute ohne aufzusehen unbeeindruckt weiter. „Und?“
„Im hinteren Teil befindet sich ein Wall aus aufgeschichteten Steinen. Ungewöhnlich, nicht wahr? Leider wurde es zu dunkel, bevor ich mir das ganze genauer ansehen konnte.“
Rob hielt inne.
„In der Tat kurios“, fand er. „Gemauert?“
„Ich weiß es nicht. Sah so aus.“
„Wir können es ja morgen bei Tageslicht einmal ansehen.“ Damit war das Thema für ihn erledigt und er widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder den Tichinas. Mit etwas Abstand betrachtet glaubte auch ich nicht mehr an etwas Besonderes im Zusammenhang mit meiner Entdeckung.
Wie sehr ich mich täuschen sollte.
Am nächsten Morgen machten wir uns daran, meine Entdeckung genauer unter die Lupe zu nehmen. Es drang genug Helligkeit ein, um den größten Teil der Höhle mit Licht zu fluten. Das Mauerwerk jedoch war raffiniert angelegt worden. Es lag im Schatten einer vorspringenden Felsnase, die es vor neugierigen Blicken schützte. Selbst jetzt, direkt davor stehend, war es kaum auszumachen.
„In der Tat faszinierend“, sagte Rob. „Es ist tatsächlich gemauert. Allerdings nicht sehr fachmännisch, wenn du mich fragst.“ Er tastete die mannshohe, etwa zwei Körperlängen breite steinerne Wand mit den Händen ab. Ich tat es ihm gleich. Der Mörtel zwischen den Steinen stand teilweise fingerdick hervor und bröckelte uns bei der leisesten Berührung entgegen. „Diese Wand ist in Eile hochgezogen worden. Und nicht erst gestern.“
„Auch nicht erst vorgestern. Diese Arbeiten hier wurden vor langer Zeit verrichtet. Das erinnert mich an die Überreste von Van Dien. Erinnerst du dich an die Jahrhunderte alten Ruinen? Die Reste der Grundmauern waren in so schlechtem Zustand, man konnte sie mit dem kleinen Finger zum Einsturz bringen. Beinahe so wie hier.“
Rob nickte.
„Du hast Recht, Jack. Diese Mauer ist uralt.“
Wir wechselten gespannte Blicke. Trotz des schlechten Lichts sah ich Robs Augen funkeln. Auch seine Neugier war geweckt, und wenn etwas nicht zu unterdrücken war, dann sie.
„Wir brauchen mehr Licht.“ Ohne weitere Worte stand für mich fest, die Mauer abzutragen, auf welche Weise auch immer. Und ich wusste genau, Rob war meiner Meinung.
„Wir haben kein Licht“, erwiderte mein Bruder mit aufkommender Ungeduld in der Stimme. „Unsere Fackeln und Kerzen liegen auf dem Meeresgrund. Wie auch immer, wir werden diese Wand erst einmal einreißen, dann sehen wir weiter. Sieht ohnehin nicht mehr sonderlich stabil aus. Ein paar Tritte genügen unter Umständen. Geh ein Stück zurück! Es könnte sein, dass das Teil nicht zusammenbricht sondern im Ganzen umkippt.“
Typisch Rob! Natürlich übernahm er sofort das Kommando und drängte mich in die Rolle des Zuschauers. Ich wollte widersprechen, besann mich aber eines anderen und trat wie verlangt ein paar Schritte zurück. Womöglich war es besser, ihm den Vortritt zu lassen. Ich war noch angeschlagen und körperliche Arbeit mit Sicherheit nicht die richtige Rezeptur zu schnellstmöglicher Genesung.
Rob machte sich sofort an die Arbeit. Zunächst versetzte er der maroden Wand einen gezielten Tritt, der sie erzittern ließ. Teile des protestierenden Mauerwerks bröckelten ab. Auch klang es, als hätten erste Steine begonnen, sich aus ihrer Verankerung zu lösen.
„Die widersteht nicht lange“, kommentierte er seinen ersten Versuch. „Ein paar weitere Tritte müssten das übrige tun.“
Und so war es auch. Nach vier weiteren Gewaltakten gegen das spröde alte Mauerwerk, stürzte es ohne jede weitere Vorwarnung in sich zusammen. Rob hatte bereits zum nächsten Schlag angesetzt, als er die Bewegung in der einstürzenden Mauer wahrnahm und stattdessen einen Satz nach hinten machte. Mit letztem dumpfem Ächzen kollabierte die Jahrhunderte alte Arbeit. Das Zusammenstürzen der vielen Steine nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch und verursachte dabei überraschend wenig Lärm. Unangenehmer war da schon die Staubwolke, die sich explosionsartig in der ganzen Höhle ausbreitete und uns hustend nach draußen zwang.
Rob grinste mich triumphierend an. „Na, wie habe ich das gemacht?“
„Wie ein echter Fachmann. Ich dachte die ganze Höhle stürzt über unseren Köpfen ein.“
„Jetzt müssen wir nur noch warten, bis sich der Staub etwas gesetzt hat. Dann werden wir sehen.“
Endlos lange Minuten verstrichen, bevor wir uns erneut in das Innere der Höhle wagten. Die Luft flimmerte von Tausenden herumfliegender Partikel. Das Mauerwerk war in der Mitte zusammengestürzt. Zu beiden Seiten standen die stark in Mitleidenschaft gezogenen Restwände. Zu unseren Füßen dagegen lagen die traurigen Trümmer. Sie stellten kein Hindernis mehr dar. Der Blick war frei auf ein gähnendes schwarzes Loch im Fels. Wir spähten hinein, konnten aber nichts erkennen. Das vor uns liegende Gewölbe schien auch nicht allzu tief zu sein, womöglich war unsere ganze Mühe umsonst gewesen und es befand sich rein gar nichts darin. Eine Kerze hätte jetzt Wunder bewirkt, doch wir hatten keine. Uns blieb keine Wahl. Wir mussten auf unseren Tastsinn vertrauen.
„Ich gehe rein“, sagte ich kurz entschlossen und schlüpfte, bevor Rob noch etwas einwenden konnte, durch die Öffnung. Etwas zu übereilt, denn prompt stolperte ich über im Dunkel verborgene Mauerreste und schlug der Länge nach hin. Robs höhnisches Gelächter schmerzte mehr als das aufgeschlagene Knie.
Mit beiden Händen untersuchte ich, worauf ich gefallen war. Es fühlte sich weich und krümelig an wie ein Haufen vermodernder Holzpflöcke und klapperte hohl unter meinen forschenden Fingern. Unheimlicher Verdacht beschlich mich, welcher sich schnell bestätigte.
Ich lag auf den sterblichen Überresten eines Toten.
Mit einem heißeren Schrei warf ich mich nach hinten und rutschte auf allen Vieren von meinem grausigen Fund weg in Richtung Rob, der noch immer am Eingang stand und mich verständnislos beobachtete.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte er, während ich auf ihn zurobbte.
„Da drin liegt ein Skelett“, brachte ich angewidert hervor.
Rob ließen diese Neuigkeiten kalt.
„Ja und? Ein Skelett kann dir doch nichts tun. Jetzt nimm dich mal zusammen!“ Kopfschüttelnd marschierte er hinein, wich der Stolperfalle aus, die mich ins Straucheln gebracht hatte, und verschwand aus meinem Blickfeld. Es knackte nur leicht, als die alten Knochen des Toten unter seinen beschuhten Sohlen barsten.
„Und?“ rief ich, wenig gewillt ihm zu folgen. „Kannst du was erkennen?“
Gedämpftes Rascheln, als wühlte jemand in reichlich Papier. Ohne ein Wort Robs flogen die ersten Objekte, derer er habhaft wurde, wie aufgescheuchte Vögel aus der Öffnung heraus.
„Sieh selbst“, rief er, die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen könnend. Ich zog den Kopf ein und wich einem der Geschosse aus, das verdächtig einem Buch ähnelte, nur um vom nächsten mitten im Gesicht getroffen zu werden. Bei der Kollision löste sich der lederne Einband und hunderte von vergilbten Blättern landeten lose in meinem Schoß. Ein weiterer Umschlag rauschte dicht am Ohr vorbei und knallte lautstark gegen die Höhlenwand.
„Hey, Rob, was soll das?“ rief ich ungehalten. „Hör auf damit! Du machst ja alles kaputt!“
„Nur alte Schriften. Alte Schriften und ein Skelett. Ich weiß nicht, was ich jetzt aufregender finden soll.“
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